: Zurück in die Zukunft
Der Neubeginn des Tempodroms am Anhalter Bahnhof ist zugleich das Ende einer 22-jährigen Ära: Rückblick auf eine wilde Achterbahnfahrt mit unzähligen Teilnehmern an drei verschiedenen Orten
von LARS KLAASSEN
Am ersten September diesen Jahres war Ausverkauf, das alte Tempodrom ging über den Ladentisch. Fast das gesamte Inventar wurde zum Verkauf angeboten, Biertische, Reklameplakate, Zirkuswagen; auch das kleine gelb-blaue Zelt samt 500 Plätzen: VB 40.000 DM. Die heutige Eröffnungsfeier ist das Happy End eines dramatischen Umzugsspektakels und das Ende einer Ära.
In einer Hinsicht zumindest bleibt sich Irene Moessingers Zirkus der etwas anderen Art treu: Ungewiss, wie die Zukunft des Tempodroms derzeit mit dem Neubeginn am neuen Ort erscheint, war sie schon immer.
Nach dem furiosen Startschuss am 1. Mai 1980 ließ die erste existenzielle Krise nicht lange auf sich warten. Die Begeisterung über die Krankenschwester, die unverhofft eine halbe Millionen Mark erbt und diese in einen Zirkus samt 3.000-Personen-Zelt steckt, war noch in vollem Gange, da läuteten bereits zum ersten Mal die Totenglöckchen, und es sollte nicht das letzte Mal sein.
Ob es nach der ersten Winterpause weitergehen würde, war fraglich, die 500.000 Mark waren weg. Doch damit nicht genug: Dem Tempodrom drohte die fristlose Kündigung wegen eines Misthaufens. Der auf dem Potsdamer Platz angesiedelte Zirkus verstoße gegen das Seuchengesetz, so die Senatsverwaltung, Eigentümerin des Grundstücks. Laubenpieper holten den Naturdünger kurzerhand ab und die Posse fand ein Ende.
Moessinger, ihr Dressurschwein Oscar und der ganze Zirkus samt Akrobaten, Elefanten und anderen Exotika war am Ende der ersten Saison bereits berühmt und berüchtigt. Das „Märchen“ von der Krankenschwester, die sich ihren Zirkustraum erfüllt, und die prekäre finanzielle Situation des Unternehmens haben ihr Teil dazu beigetragen, dass das Tempodrom immer wieder als „alternativ“ gehandelt wurde. Damit konnte Gründerin Moessinger nie viel anfangen. Und wer einen Blick auf das Programm der vergangenen 21 Jahre wirft, wird, wenn überhaupt an irgendetwas, wohl eher an „crossover“ erinnert.
Zu den ersten Gästen zählten Eddie Constantine und Schlagersängerin Manuela („Schuld war nur der Bossa Nova“), die in einer 60er-Jahre-Revue auftraten. Von Anfang an mit dabei waren die Kabarettisten „Drei Tornados“. Sie waren es auch, die die etwas schräge und holprige Tempodrom-Hymne texteten und sangen: “Mensch, das ist ne Wucht/ sowas hamm wir hier gesucht/ Ja, das schleudert dich vom Sitz/ Vom Wedding bis nach Britz/ Alle stehen unter Strom/ Denn heute ist was los – im Tempodrom“. Die Musik zu diesem Werk stammt übrigens aus der Feder von Ton Steine Scherben, die sich regelmäßig im Zirkuszelt blicken ließen. Nach Rio Reisers Tod 1996 fand im Tempodrom ihm zu Ehren eine Abschiedsveranstaltung statt.
Abschied nahm das Tempodrom öfter: zunächst einmal vom Potsdamer Platz. Nach letztlich geplatzten Bebauungsplänen für die innerstädtische Brache gab 1983 ein anderer Grund den Ausschlag für den Umzug neben das heutige Haus der Kulturen der Welt im Tiergarten. Die Lärmbelästigung sei nicht vertretbar, so die Senatsverwaltung. Das gleiche Argument führte aber auch am neuen Ort zu der Forderung, maximal zwei bis drei „laute Veranstaltungen“ im Monat zuzulassen und diese bis 22 Uhr zu beenden. Ein willkommener Anlass für die Tempodrom-Crew, ob dieser geschäftlichen Knebelung erneut auf öffentliche Förderung zu pochen. Beim Hin und Her zwischen Senat und Kulturträger kam es so weit, dass man den Landesvätern das Zelt zum Geschenk anbot, diese lehnten jedoch ab.
Konzerte gab es nach wie vor auch nach 22 Uhr und in voller Bandbreite: Unter anderem gaben sich Die Ärzte, Divine, Nina Hagen, Simply Red, John Lurie, Wolf Biermann, Blümchen und Sabrina Setlur die Klinke in die Hand. Seit 1988 huldigt man mit den „Heimatklängen“ der akustischen Globalisierung.
Neben der musikalischen Schiene kam im Tempodrom auch der Sport zum Zuge. Boxkämpfe mit literarisch unterfüttertem Begleitprogramm à la Brecht in Weimar, Catchen und Fußball-Übertragungen standen im Zeichen von „Brot und Spiele“. Aber auch die „New Age“-Welle ging nicht spurlos am Tempodrom vorbei. Der Kongress „Bewußt Sein 88“ zog Pilger wie Spötter in den Tiergarten. Zehn Jahre später war sogar der Dalai Lama zu Gast.
Nach dem Mauerfall zog es nach all den Musikern und Künstlern auch die Bundesregierung hierher. Das Tempodrom musste dem Neubau des Kanzleramtes weichen. Als neue Heimat wurde zwischenzeitlich der Plänterwald anvisiert, bevor die endgültige Entscheidung für einen Neubau am Anhalter Bahnhof fiel. Provisorischer Standort bis zur Fertigstellung wurde ein alter Gewerbehof am Ostbahnhof. Hier wurden kurz vor dem Bezug der nun wohl endgültigen Heimat die Devotionalien einer zwanzigjährigen Geschichte verkauft.
Nur zwei alte Zirkuswagen werden künftig die Freifläche vor der neuen Halle flankieren. Und auch das große Zirkuszelt, mit dem alles seinen Anfang nahm, ist geblieben. Es wurde zusammengepackt und auf unbestimmte Zeit zwischengelagert, Zukunft ungewiss.
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