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Der Club der toten Elektriker

Als die Sowjetunion in den Zwanziger- und Dreißigerjahren zum Mekka der Revolutionsgläubigen wurde: Erstmals liegt die Geschichte deutscher Arbeiter in der sowjetischen Elektroindustrie in einer russischen Publikation zur Industriegeschichte vor

Unerwartet viele deutsche Arbeiter wollten nach Deutschland zurück

von HELMUT HÖGE, WLADIMIR KAMINER und MARKUS KRAJEWSKI

In den Zwanziger- und Dreißigerjahren wurde die Sowjetunion zu einem Mekka für Ausländer, die von der Revolution begeistert waren. Die meisten Politemigranten kamen aus Ungarn und Deutschland, nachdem die Revolution in ihren Ländern niedergeschlagen worden war. Sie wurden von der damaligen sowjetischen Regierung als Avantgarde der weltkommunistischen Bewegung begeistert aufgenommen. Einige machten eine glänzende Karriere – wie etwa der ungarische Kommunist Josef Pogani, den die Komintern nach Amerika schickte, wo er unter dem Namen John Pepper Führer der Kommunistischen Partei der USA wurde. Das State Department analysierte die von Felix Dserschinski betriebene sowjetische Einwanderungspolitik und kam dabei zu dem Schluss, dass viele Asylanträge abgelehnt wurden; die meisten, die bleiben durften, waren hoch qualifizierte Spezialisten.

Ende der Zwanzigerjahre war die Emigrantenkolonie in der UdSSR auf 35.000 Menschen angewachsen, wovon die Mehrzahl Deutsche waren. Viele wurden beim Aufbau der Schlüsselindustrien eingesetzt. Dazu gehörte auch und vor allem die Elektroindustrie. Zu diesem Zeitpunkt war die rasche Elektrifizierung der Sowjetunion von der Partei zum wichtigsten Ziel erklärt worden und die Glühbirne – „Iljitschs Lämpchen“ genannt – geradezu ein Kultobjekt geworden: sichtbares Zeichen für die strahlende kommunistische Zukunft. Doch noch existierte keine eigene Glühbirnenproduktion im Land, die Lampen mussten teuer in Deutschland oder in den USA eingekauft werden.

Der Partei war klar, dass eine fortdauernde Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten den anspruchsvollen Elektrifizierungsplan Goelro gefährdete. Sowjetrussland brauchte dringend Patente und eigene Produktionsanlagen. Bereits 1923 hatten die ersten Gespräche mit den drei größten westeuropäischen Elektrokonzernen – Osram, Philips und AEG – stattgefunden. Diese wollten nur als ein Konsortium die Verhandlungen führen, außerdem stellten sie harte Bedingungen. Gleichzeitig versuchten sowjetische Wissenschaftler, eine eigene Wolframdraht-Produktion aufzubauen, woraufhin General Electric (USA) und Osram (Deutschland) eine Wolframblockade verhängten. Dadurch wurde das Wolframproblem zu einem Politikum.

Zuvor hatte die Sowjetunion für teures Geld Maschinen zur Draht- sowie auch zur Glühbirnenherstellung von General Electric gekauft, nun konnten diese nicht benutzt werden. Der sowjetische Geheimdienst versuchte mit Hilfe der Kommunistischen Partei Deutschlands an weitere Technologie heranzukommen. Zu diesem Zweck wurden in Berlin – bei der AEG im Wedding und bei Osram an der Warschauer Brücke – hoch qualifizierte Arbeiter, genannt seien Julius Hoffmann und Emil Deibel, angeheuert, die an ihren Arbeitsplätzen Industriespionage betrieben.

Die beiden waren erprobte Genossen; im Oktober 1923 hatten sie bereits in Erwartung eines Arbeiteraufstands Bomben in der Wolframdraht-Zieherei von Osram hergestellt. Als im selben Jahr die KPD verboten wurde, emigrierten sie zusammen mit etlichen anderen Arbeitern der Elektroindustrie, die auf der schwarzen Liste der Unternehmer standen, nach Moskau. Hier wurden sie in die Wolframwerkstätten des Elektrosawods eingewiesen, wo sie die zuvor von ihnen beschafften Technologien weiter produktionsreif machten. Zuvor mussten sie auf Verlangen des NKWD Kampfnamen annehmen – so wurde Willi Koch zu Max Schmor und Franz Geissler zu Paul Schweizer. Auch bekamen sie neue Parteiausweise. Zur sozialen Integration der in Moskau lebenden Arbeiter war bereits im März 1923 ein „Deutscher Kommunistischer Klub“ gegründet worden, dem nach einem Jahr bereits über 1.000 Mitglieder angehörten. Die hier namentlich erwähnten ehemaligen Osram-Arbeiter gehörten zum harten Kern dieser Exilorganisation.

Die Verhandlungen zwischen den Elektrokonzernen und der Sowjetregierung gingen unterdes weiter. Im Februar 1926 wurde zwischen der AEG und dem Glawelektro (dem Ministerium für die Elektroindustrie) ein Geheimabkommen geschlossen, auf dieser Grundlage erwarb die Sowjetunion Lizenzen zum Aufbau einer eigenen Elektroproduktion, wobei faktisch das gesamte „AEG-System“ kopiert werden sollte: „So wurde der Elektrosawod quasi zum Milchbruder der AEG“, schreibt der Industriehistoriker Sergej Schurawlow.

Bereits 1927 – pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution – konnten die Produktionsanlagen feierlich eingeweiht werden. Kurz danach waren auch General Electric, Krupp und andere Konzerne bereit, Verträge mit der Sowjetunion zu schließen und ihre Ingenieure dorthin in Marsch zu setzen. Viele dieser Vertragsarbeiter betrieben nun ihrerseits Industriespionage – indem sie ihren Unternehmen von den Aufbauleistungen in der Sowjetunion berichteten, etliche schrieben später auch Bücher über ihre russischen Produktionserfahrungen. Wobei unter dem Strich meist herauskam, dass der wichtigste sowjetische Produktionsfaktor – die Begeisterung – für die westeuropäischen und amerikanischen Konzerne kaum zu kopieren war.

Der wichtigste sowjetische Produktionsfaktor war die Begeisterung

Die in die Sowjetunion emigrierten Arbeiter wurden – zusammen mit ihren Angehörigen – von der inländischen Presse, aber auch von den kommunistischen Zeitungen im Ausland immer wieder gerne als ideale sozialistische Familien dargestellt. So veröffentlichte die KPD-Zeitung Rote Fahne am 4. April 1932 eine Reportage über die Arbeiterdynastie Zint im Werk Elektrosawod – unter dem Titel „So lebt eine Berliner Arbeiterfamilie im Land des Sozialismus“: „In der Sowjetunion fühlt sich Bernhard Zint wie zu Hause, er glaubt fest an den Sieg des Sozialismus und unternimmt alles, was in seiner Macht steht, um diesem Ziel näher zu kommen. Sein Sohn Otto und seine Tochter Lotte waren in Deutschland arbeitslos. Jetzt arbeiten auch sie bei Elektrosawod. Ihre Mutter Margarete ist Hausfrau, daneben jedoch noch im gesellschaftlichen und politischen Leben aktiv. Auch Opa Hermann hält es nicht zu Hause, trotz seines Alters geht er regelmäßig zum Elektrosawod. Die Kinder Herta und Bernd gehen noch zur Schule, sie sind bei den Jungen Pionieren aktiv. Diese Familie muss sich über die Zukunft keine Sorgen machen. Was wäre, wenn die Zints in Deutschland leben würden? In einem kapitalistischen Land mit Arbeitslosigkeit wäre das Schicksal dieser Familie ein anderes.“ Die SPD-Zeitung Vorwärts sowie einige andere deutsche Zeitungen bezweifelten diese allzu positive Darstellung der Roten Fahne und stellten eine Umfrage unter Heimkehrern an, die bei Elektrosawod gearbeitet hatten. Daraus entstand bald eine öffentliche Debatte, die schließlich in einer Broschüre mit dem Titel „Berliner Proletarier erzählen“ zusammengefasst wurde.

Entscheidend waren jedoch nicht die Interpretationen dieses Proletarierglücks, sondern was dann auf die Familie Zint und alle anderen, die in die Sowjetunion emigrierten, zukam: Bereits 1933 begannen bei Elektrosawod wie im ganzen Land die Säuberungen der Partei – unter dem Motto „Seid wachsam, der Klassenfeind schläft nicht!“ Mit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland gerieten die deutschen Kommunisten in der Sowjetunion mehr und mehr zwischen Hammer und Amboss. Die Regierung verlangte von ihnen als Erstes, entweder die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder nach Deutschland zurückzukehren, eine Alternative, die besonders für die deutschen Juden problematisch war, „die an das Märchen vom proletarischen Internationalismus geglaubt hatten und nun in der Klemme steckten“, wie Sergej Schurawlow schreibt.

Unerwartet viele deutsche Arbeiter wollten nach Deutschland zurückkehren. So entschieden sich die Arbeiter Matte und Pose und ihre Familien „für Hitler“ – zwei der Helden aus der Agitationsbroschüre „Berliner Proletarier erzählen“. In einem geheimen Dokument des NKWD über die deutsche Kolonie heißt es abschließend: „In dieser veränderten weltpolitischen Lage sind die Arbeiter aus Deutschland nicht mehr zu gebrauchen.“ Bis 1937 verließen ungefähr 900 Emigranten allein das Elektrosawod. Am 20. Juli 1937 erging eine Weisung des Politbüros an den NKWD zur sofortigen Internierung aller in verteidigungsrelevanten Betrieben arbeitenden Deutschen. Der Verantwortliche, Jeschow, hatte täglich über den Verlauf der Maßnahme zu berichten. Viele der Arrestierten und dann wegen Landesverrats verurteilten Arbeiter überstanden Gefängnis und Lager nicht. Einer der ersten deutschen Elektrosawod-Mitarbeiter, Willi Koch alias Max Schmor, wurde nach zehn Jahren Lager in Uralsk in die Verbannung nach Westkasachstan geschickt, wo er noch weitere zehn Jahre als hervorragender Elektriker bei einer Maschinen-Technischen-Station (MTS) arbeitete. Erst 1956 – drei Jahre nach Stalins Tod – kehrte er nach Moskau zurück.

Daheim bei Osram an der Warschauer Brücke, das 1945 von den Sowjets enteignet und dann zusammen mit anderen ostdeutschen Lampenfabriken zum Kombinat Narva zusammengefasst worden war, hatte man unterdes ein Traditionskabinett eingerichtet, in dem die einst nach Moskau emigrierten Genossen einen Ehrenplatz einnahmen. Nach der Wende landeten ihre Fotos jedoch auf dem Müll. Nun hat der Moskauer Industriehistoriker Sergej Wladimirowitsch Schurawlow ihre Geschichten noch einmal ausgegraben. Sein im Verlag des Instituts für Russische Geschichte erschienenes Buch trägt den Titel „Kleine Leute – und die große Geschichte: Die Ausländer des Moskauer Elektrosawods in der sowjetischen Gesellschaft der Zwanziger- und Dreißigerjahre“.

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