: Strategische Perspektive
Die wichtigste Reform der EU wird nicht von Regierungschefs geplant, sondern von Abgeordneten. Sie sollten die Frage klären, wofür die Union eigentlich da ist
Irgendwie scheint da etwas an Attac vorbeigelaufen zu sein. Wie sonst wäre es möglich, dass die Globalisierungskritiker eine vierseitige Mobilisierungsbeilage zum EU-Gipfel in Laeken produzieren, ohne auch nur einmal auf das Thema einzugehen, das die Regierungschefs an diesem Freitag tatsächlich beschäftigen wird: die Einsetzung eines Gremiums, im EU-Jargon „Konvent“, das die wichtigste Reform der Europäischen Union in ihrer bisherigen Geschichte vorbereiten soll.
Aber vielleicht wird Attac von dieser Entwicklung ja genauso überrascht wie die meisten Politiker. Als Joschka Fischer sich im Mai 2000 an der Berliner Humboldt-Uni für die „volle Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation“ aussprach, wurde zwar allseits begeistert applaudiert. Gleichzeitig glaubte jedoch niemand, dass die Vorschläge auch nur die geringste Realisierungschance haben. Nicht einmal der Außenminister selbst, schließlich hatte er wohlweislich als „Privatmann“ gesprochen und betont, dass er „strategische Perspektiven weit über das nächste Jahrzehnt hinaus“ darstellen wolle.
Wie sehr Fischer sich verschätzt hat, zeigt sich nun. Auf Druck der europäischen Abgeordneten nimmt erstmals keine Regierungskonferenz die Reform der EU in Angriff, sondern ein zu 75 Prozent mit Parlamentariern besetzter Konvent. Der Vorteil: Da die Abgeordneten aus Regierungs- und Oppositionsparteien kommen, werden sie mehr inhaltlich und weniger entlang nationaler Interessen wie die Regierungschefs diskutieren. Ihre gut einjährige Arbeit könnte so zu einer Verfassung der Europäischen Union führen, die die Gemeinschaftsinstitutionen stärkt und die Möglichkeiten intergovernmentaler Zusammenarbeit endlich einschränkt.
So weit, so gut. Inzwischen droht jedoch die Gefahr, dass die Regierungschefs den Konvent missbrauchen als Allheilmittel für die von ihnen diagnostizierte „Bürgerferne“ der Union. So wurde nicht nur die Zahl der Probleme, mit denen die Parlamentarier sich beschäftigen sollen, immer unübersichtlicher. Zugleich rief man die Bürger fast flehentlich auf, die Chance nicht zu verpassen und sich doch bitte endlich zu äußern, wie man sich die EU denn so vorstelle. Debatten auf Internet-Seiten, die allüberall eingerichtet wurden, Bürgerforen und Anhörungen von NGOs sollten nun plötzlich die Legitimität der EU erhöhen. Eine verbindliche Regelung aber, wie die Bürgermeinung in die neue Verfassung einfließen könnte, das ging den Politikern dann doch zu weit.
Andererseits muss man aber auch fragen, über welche Themen der EU-Neuordnung die Zivilgesellschaft eigentlich sinnvoll diskutieren kann? Die Reform der Institutionen, also: ein bisschen mehr Macht für die Kommission, ein bisschen weniger für den Ministerrat, ist Reformthema Nummer eins bei EU-Politikern und Journalisten. Denn sie haben damit ja täglich zu tun. Viele Wähler jedoch wissen nicht einmal, wie all diese politischen Entscheidungsgremien aufgebaut sind, gerade wegen fehlender Transparenz und Demokratie sollen sie ja jetzt reformiert werden.
EU-Verfassung, Konventthema Nummer zwei: Die Grundrechtecharta der EU ist bereits verabschiedet, darüber kann also gar nicht mehr diskutiert werden, obwohl die Bürger gerade das sicher mit Ausdauer getan hätten. Schließlich geht es dort nicht nur um die politischen, sondern auch die sozialen Rechte, die die Union ihnen zusichert. Die Neugliederung der EU-Verträge aber, die ebenfalls auf der Tagesordnung des Konvents steht, stellt ein Problem dar, vor dem selbst viele Juristen kapitulieren dürften. Für ein Bürgerforum eignet es sich mit Sicherheit nicht.
Und drittens gibt es da noch ein Thema, das bei vielen Bürgern ankommen wird, zugleich jedoch ein grundlegendes Prinzip der EU außer Kraft setzen könnte: das der Solidarität. Auf die Konventsagenda gesetzt haben es die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer unter dem Stichwort Kompetenzabgrenzung, was übersetzt so viel heißt wie: Was dürfen die Regionen und Mitgliedsstaaten eigentlich noch allein, ganz ohne Brüssel entscheiden? Zurück zur Subsidiarität, lautet die Forderung. Denn Small is beautiful, und auch die Grünen konnten sich – zunächst – für diesen alten Slogan begeistern. Je mehr sich die Ministerpräsidenten aber mit dem Problem beschäftigten, umso klarer wurde ihnen, dass eine einfache Trennung von Zuständigkeiten in einer sich immer weiter vernetzenden Welt nicht mehr möglich ist. Doch im nächsten Jahr finden Bundestagswahlen statt, und so wird sich gerade Edmund Stoiber – egal ob Kanzlerkandidat oder nicht – das populistische Anprangern der vermeintlich allmächtigen EU-Bürokratie kaum entgehen lassen. Zumal es dabei auch ums Geld geht. Stoiber und die anderen fordern für ihre Länder mehr Rechte bei der Entscheidung über EU-Fördermittel und damit letztendlich eine Einschränkung des Finanzausgleiches zwischen reichen und ärmeren Mitgliedsstaaten.
Wer also die Diskussion über die Zukunft Europas auf diese komplexen institutionellen Themen beschränkt, könnte den eh schon allgegenwärtigen Eindruck, dass die Union ein undurchschaubares, bürokratisches Ungetüm ist, bestärken und die Reform der EU eher behindern als fördern. Stattdessen sollten sich die Bürgerforen und dann auch der Konvent mehr mit Inhalten der EU-Politik beschäftigen.
Zum zentralen Thema könnte sich die Sozial- und Beschäftigungspolitik entwickeln. Und dies nicht nur wegen der momentan schlechten konjunkturellen Lage. Wenn die Menschen in Euroland ab 1. Januar eine gemeinsame Währung in der Hand haben, bedeutet dies mehr als nur den Wegfall ungeliebter Umtauschprozeduren. Wichtiger ist, dass nun die Preise transparent werden. Nicht nur für einen Hamburger bei McDonald’s, sondern eben auch für Lohn- und Lohnnebenkosten. Damit können Unternehmer sich den billigsten Arbeitsmarkt aussuchen, Europas Gewerkschaften erhalten im Gegenzug die Chance, gemeinsam für höhere Löhne und gleiche Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Zugleich aber werden sich immer mehr Menschen die Frage stellen, ob es angesichts einer gemeinsamen Währung und eines gemeinsames Marktes nicht auch eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU geben muss. Am Ende dieser Diskussion könnte sich zeigen, dass die Bürger mehr und nicht weniger Kompetenzen für Brüssel wollen.
Ob solche Positionen in die Ergebnisse des Konvents eingehen – davon dürfte letztendlich sein Erfolg abhängen. Denn nur wenn die öffentliche Meinung den Konvent stützt und ihm so zusätzliche Legitimität verleiht, werden die Regierungschefs, die bei EU-Reformen immer das letzte Wort haben, die Arbeit der Parlamentarier nicht ignorieren können. Um den Druck zu erhöhen, sollte jedoch ein weiteres „Sicherungsinstrument“ eingebaut werden: ein europaweites Referendum über die neue Verfassung der EU. SABINE HERRE
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