: Das Gedächtnis der Opfer
■ Hirnpräparate von Hamburger Euthanasie-Toten auf einem Dachboden vom Wiener Institut wieder aufgetaucht
Die Gehirnschnitte sind mit Parafin chemisch präpariert oder zwischen zwei Glasplatten konserviert. Über 10.000 Hirnpräparate von Euthanasieopfern haben MitarbeiterInnen des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands auf dem Dachboden des Ludwig-Boltzmann-Instituts in Wien gefunden. Darunter auch Gehirnschnitte von Irma Sperling, die zusammen mit weiteren 14 Mädchen der Hamburger „Alsterdorfer Anstalten“ 1943/44 in der Kinderfachabteilung des Wiener Klinikums „Spiegelhof“ nach medizinischen Experimenten starb. Die Leichen wurden obduziert, die Gehirne von den NationalsozialistInnen präpariert.
„Es ist unglaublich“, betont Irmas Schwester Antje Kosemund, „wir dachten, alle verfügbaren sterbliche Überreste beigesetzt zu haben“. Denn nachdem Kosemund per Zufall bei einem Besuch 1994 in Tirol von den Präparaten in der Gehirnkammer des Klinikums erfuhr, stritt sie, unterstützt durch Michael Wunder von der „Stiftung Alsterdorf“, mit der österreichischen Klinik jahrelang um die Herausgabe der Gehirne. Bei einer Gedenkveranstaltung für die insgesamt 508 Euthanasieopfer der Hamburger Einrichtung wurden dann 1996 alle noch vorhandenen sterblichen Überreste von Irma und weiteren neun Mädchen auf dem Ehrenfeld der Geschwister Scholl beigesetzt.
So glaubten zumindest die Betroffenen. Tatsächlich jedoch wurde an den Präparaten offenbar weiter gearbeitet. „Jahrzehntelang dienten die Gehirne der Opfer so manchem der früheren Täter als Forschungsmaterial“ erklärt Kosemund. Vor allem der Wiener Psychiater Heinrich Gross, der als Oberarzt der Kinderfachabteilung unmittelbar an der Tötung beteiligt war, forschte auch nach 1945 an den Gehirnpräparaten und machte sich damit einen Namen in der Fachwelt.
„Dass die verloren geglaubten Hirnpräparate gefunden wurden, ist erfreulich“ sagt Wunder, der seit Jahren nach den sterblichen Überresten sucht. Von allen Mädchen wären ganze Serien von Präparaten vorhanden. „Ungeheuerlich ist jedoch das Ausmaß des mörderischen Forschungsdrangs“, sagt Wunder. Was ihn jedoch doppelt empört, ist der Umstand, „dass über Jahre dieser Bestand von der Leitung des Boltzmann-Instituts geleugnet und Gross bis heute gedeckt wurde“. Bis 1981 hatte Gross die Instituts Dependance im Steinhof geleitet, bevor sie in die Institutszentrale in der Klinik Wien-Lainz aufgenommen wurde. Der Leiter der Klinik, Karl Jellinger, hatte immer wieder bestritten, das die Präparate von Euthanasieopfern stammen.
Am 28. April des kommenden Jahres beabsichtigt die Stadt Wien alle aufgefunden Präparate feierlich beizusetzen. Andreas Speit
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