: Vom Großen Sprung zum Hamburger Exil
Die Lebenserinnerungen des ehemaligen Hamburger Sinologieprofessors Yu Chien Kuan ■ Von Andreas Speit
Knickerbocker und Fachwerkhäuser sind die ersten Eindrücke, die Yu Chien Kuan 1937 in der ehemaligen deutschen Kolonie Qingdao von der deutschen Kultur gewinnt. Erst wieder 1969 kommt er durch die unfreundliche Behandlung der Grenzbeamten und die Frage nach den nötigen Papieren am Frankfurter Flughafen mit Deutschland in Kontakt.
In den dazwischen liegenden 32 Jahren erlebt der heute anerkannte Vermittler zwischen der chinesischen und deutschen Kultur und frühere Dozent für Sinologie an der Hamburger Universität die wechselhafte Geschichte Chinas. Ohne privaten Groll und politischen Hass, die so mancher Exilliteratur aus dem „roten China“ eigen ist, erzählt er in Mein Leben unter zwei Himmeln seinen Lebensweg, der eng mit dem Verlauf der chinesischen Revolution verwoben ist.
Kurz nach der Geburt Kuans 1931 in Kanton wird seine Familie durch die japanische Besetzung ins Pekinger Exil getrieben. Kuans Vater schließt sich dem kommunistischen Widerstand an. Fortan obliegt der Mutter als Lehrerin die Versorgung der drei Kinder. Erneut müssen sie vor den Japanern fliehen, diesmal nach Shanghai. Auf den Dächern der Hafenmetropole beobachtet Kuan 1937 den Einmarsch der Japaner. Als er sein Studium der russischen Sprache beginnt, siegt gerade die Volksarmee Mao Zedongs.
Die anfängliche Begeisterung für die Volksrepublik verschwindet langsam und schmerzlich. Als Student wird Kuan mittels der „Selbstkritik“ – einer öffentlichen Umerziehung – gezwungen, seinen „westlichen“ Prägungen abzuschwören. Wie viele andere hoffte er, durch die Selbstkritik ein „guter Revolutionär“ zu werden, wie viele andere suchte er Kommilitonen zu helfen, indem er sie auf öffentlichen Sitzungen denunzierte.
Nach dem Studium arbeitete Kuan als Russisch-Dolmetscher im chinesischen Finanzministerium, aber langsam spürt er, wie die kommunistische Partei alle Bereiche des Lebens durchdringt. 1957 wird er Opfer der Anti-Rechts-Kampag-ne: Zunächst hängt Kuan auf Wunsch der Partei Abschriften von kritischen Texten auf, dann werden ihm diese als Beweis seiner westlichen Einstellung vorgehalten. Vier Monate lang muss er Selbstkritiksitzungen über sich ergehen lassen, bevor er in die Provinz Qinghai verbannt wird. Nur knapp überlebt er im „chinesischen Sibirien“ die drei Hungerjahre des „Großen Sprungs“. Dank Beziehungen gelingt ihm die Rückkehr nach Peking, wo er beim Friedenskomitee ausländische Delegationen betreut.
Zu Beginn der Kulturrevolution 1966 wird er jedoch von seiner eigenen Frau angezeigt, und aus Angst vor einer erneuten Verbannung flieht er nach Kairo, wo er im Gefängnis landet. Erst durch das Internationale Rote Kreuz erhält er nach einem Jahr „Schutzhaft“ eine befris-tete Aufenthaltsgenehmigung für die Bundesrepublik Deutschland.
Aus dem befristeten Aufenthalt in dem ihm „völlig fremden Land“ wird ein unbefristeter in Hamburg. In der Hansestadt ist er damals der „einzige Chinese aus der VR China“, einige halten ihn für einen Spion und so mancher Geheimdienst umwirbt ihn. Nur an der Universität wird er offen empfangen und kann nach dem Abschluss eines Studiums dort seine berufliche Existenz sichern. Die Sehnsucht nach dem Reich der Mitte und der Familie machen ihm trotz beruflichen und privaten Glücks zu schaffen. Erst seine Rehabilitation 1981 und die damit verbundene Möglichkeit, nach China zu reisen, lässt ihn zwischen Shanghai und Hamburg zur Ruhe kommen.
Gerade in dem Ungewöhnlichen an Kuans Lebensweg tritt das Allgemeine seines Schicksal deutlich hervor. Es gelingt ihm mit einer offenen Erzählweise, entlang seiner persönlichen Geschichte das ganze chinesische Drama der fünfziger und sechziger Jahre, die Absurdität und die Brutalität der Kampagnen, aufzuzeigen – nicht ohne seine eigenen ideologischen Visionen und rassistischen Ressentiments darzustellen. Er verfällt dabei nicht der gängigen Kritik und den üblichen Klischees, wirbt vielmehr für einen Dialog, der der Historie und Situation Chinas gerecht wird. Vielleicht bringt Kuan deshalb den fernen Osten so nah.
Yu Chien Kuan, Mein Leben unter zwei Himmeln, Scherz Verlag 2001, 608 S., 49,87 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen