: Termiten im Bau der Nation
aus Islamabad BERNARD IMHASLY
Der jähe Sturz der Taliban in Afghanistan hat im benachbarten Pakistan, beinahe ebenso plötzlich, die schrille Rhetorik der islamischen Parteien zum Schweigen gebracht. Wochen vorher noch waren flammende Aufrufe allgegenwärtig, die nach den Freitagsgebeten Protestmärsche durch die Basare auslösten. Heute begnügen sich die Parteien mit dürren Presse-Kommuniqués. Und statt dass die Söhne lauthals Bush und Konsorten den Tod wünschen, melden sich nun ihre Mütter, welche die Islamisten anklagen, ihre Halbwüchsigen in den Dschihad nach Afghanistan und viele in den Tod geschickt zu haben. Jene Pakistaner, welche die Belagerung von Masar-i Scharif oder Kundus überlebt haben, stehen wieder an der Grenze und werden dort von der pakistanischen Polizei in Empfang genommen.
Derweil sehen sich wichtige Anführer der radikalen „Dschamaat Ulema Islami“ (JUI) seit zwei Monaten unter Hausarrest, und auf Qazi Hussain Ahmad, den Führer der Partei, wartet zudem ein Strafverfahren wegen Volksverhetzung. Präsident Pervez Muscharraf hat Grund, mit dem Gang der Dinge zu Hause zufrieden zu sein. Sein entschiedenes Durchgreifen hat sich ausgezahlt, und er hat mit seiner Vorhersage Recht behalten, dass die Islamisten in der Bevölkerung wenig beliebt sind. Die Enthüllungen über die Zusammenarbeit des pakistanischen Geheimdienstes mit den Taliban werfen zwar einen peinlichen Schatten auf den General, und sie nehmen Islamabad jede Einflussnahme auf die politische Entwicklung in Kabul. Doch der Volksaufstand gegen die US-Bomber und deren Benützung von pakistanischem Luftraum blieb aus.
Die Schandtaten Ussama Bin Ladens und der Taliban wogen schließlich schwerer als der Abscheu vor der amerikanischen Kriegsmaschine. Und die Kampagne aus der Luft war kurz genug, um eine Solidarisierung unter dem Banner des Islam zu verhindern.
Das eine Beispiel: Afghanistan
Doch die Niederlage der Islamisten hat tiefere Gründe. Es war der alte Widerspruch zwischen religiösem Anspruch und politischer Instrumentalisierung des Islam, der die Mobilisierungskraft der Islamisten nie erstarken ließ. „Für den Dschamaat ist der Islam“, sagt der französische Spezialist Frédéric Grare, „eine supranationale Staatsideologie und nicht eine echte Glaubensgemeinschaft.“ So hatte er etwa die Verurteilung Pakistans für dessen Beteiligung am Krieg mit geopolitischen und nicht mit religiösen Argumenten begründet. „Selbst die Umma’, die Gemeinschaft aller Muslime, gleicht im Weltbild des Dschamaat eher einem herbeigesehnten Machtblock gegen den Westen.“
Dazu kommen politische Rivalitäten zwischen den Islamisten selber, und sie trugen diese oft in Afghanistan aus. Die Taliban waren die Protegés von Fazlur Rahman, dem Führer der JUI. Die Ausbildung der Islamschüler – Fazlur Rahman gebietet über 810 Koranschulen (Madrassen) – galt nicht nur der Errichtung eines islamischen Staats. Sie sollten auch den Einfluss des Dschamaat-Rivalen Qazi Hussain beschneiden. Dieser hatte nach der Vertreibung der Russen auf den Mudschaheddin Gulbuddin Hekmatjar gesetzt, und Qazi Hussain hat den Taliban nie vergeben, dass sie seinen Favoriten in Kabul 1996 ausgebootet haben. Die politische Abneigung gegen die Taliban fiel dem Dschamaat umso leichter, als er deren Koran-Interpretation als naiv betrachtet, etwa in Bezug auf die Rolle der Frau.
Das scharfe Vorgehen von Präsident Muscharraf geht aber weit über die kurzfristige Gefahr hinaus, welche der Dschamaat Islami für ihn bedeutete, meint der Publizist Najam Sethi. Dass Tränengas, Stockhiebe und Vorbeugehaft mehr als opportunistische Gesten waren, hatte Muscharraf mit seinen Maßnahmen unter Beweis gestellt, die er bereits vor dem 11. September ergriffen hatte. Im Februar erhielten die Dschehadis den ersten Schuss vor den Bug, als ihnen untersagt wurde, in der Öffentlichkeit Waffen zu tragen und Geldsammlungen durchzuführen. Zwei Monate später wurden die bewaffneten Flügel zweier radikaler Sunniten- und Schiiten-Parteien verboten. Im Juni benützte Muscharraf den symbolisch wichtigen Anlass des Nationalfeiertags, um erstmals programmatisch religiöse Extremisten als den Faktor zu bezeichnen, der mit ihrer Rechtfertigung von Hass und Gewalt die Sicherheit des Landes am stärksten gefährdet. Muscharraf verstieg sich zum Bild von „Termiten, welche den Bau der Nation von innen zerfressen“.
Pakistan besitzt bereits ein überaus scharfes Anti-Terror-Gesetz, das Nawaz Scharif 1997 zur Bekämpfung der ethnischen Kämpfe auf den Straßen von Karatschi eingeführt hatte. So kann etwa der Tatbestand des Terrorismus auf Massenvergewaltigung und Kindsmissbrauch angewandt werden, unter Umständen sogar schon auf wilde Streiks oder das Anbringen von Graffiti. Nicht genug damit, dass sich dieses Gesetz auf die radikalen Parteien anwenden lässt, beriet das Kabinett vor zwei Wochen über ein neues Gesetz, das jede Gefährdung des Religionsfriedens hart bestrafen soll. Es soll auch die Religionsschulen unter Kontrolle bringen. Die Gründung von Madrassen muss in Zukunft bewilligt werden, ihre Konten müssen offengelegt werden, ebenso wie die Namen ihrer Schüler. Parallel dazu ist die Regierung dabei, Lehrpläne auszuarbeiten, die eine Reihe von „zivilen“ Fächern enthalten, damit ihre legitime Rolle als Schulen der Armen gestärkt wird.
Muscharraf will mit diesen Maßnahmen, wie er vor einigen Wochen sagte, die „Brutstätten der Fundamentalisten eliminieren, welche die Nation gegen deren Willen in den Graben der Ignoranz zurückwerfen wollen“. Die Gewalt müsse aus dem politischen Diskurs des Landes entfernt werden. Der Präsident hat bei diesen Maßnahmen zweifellos die modern denkende Elite auf seiner Seite. Die Frage ist, wie fest die Armee hinter ihm steht. In seinem Buch „The Pakistan Army“ spielt der amerikanische Politologe Stephen Cohen den angeblichen Einfluss des Dschamaat auf die Offiziersklasse herunter und behauptet, die meisten religiös orientierten Offiziere seien „Tablighis“, Teile eines frommen Gebets- und Bekehrungsordens. Pakistanische Intellektuelle bestätigen, dass die pakistanische Armee den Schutz ihrer „korporatistischen“ Interessen immer über religiöse Ziele gesetzt hat. Die Beteiligung an der amerikanischen Koalition sei ein Beispiel dafür, dass das Überleben der Institution wichtiger ist als die ideologische Überzeugung.
Das andere Beispiel: Kaschmir
Kaschmir ist allerdings ein Bereich, wo für die Armee Selbstinteresse und Ideologie bisher zusammenfielen. Der Konflikt hat ihr eine zentrale Rolle im Staat gesichert, und eine Lösung würde diese gefährden. Gerade in Kaschmir wird religiös motivierte Gewalt unter dem Namen des „Befreiungskampfs“ staatlich sanktioniert. Doch die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, wie eng Sektenkämpfe im Innern und der Dschihad in Afghanistan und Kaschmir verknüpft sind. Damit steht Muscharraf vor dem Dilemma, die religiös und politisch legitimierte Gewalt in einer Region zu fördern und in der anderen zu bekämpfen.
Bisher hat sich die Regierung mit der Unterscheidung von Befreiungskampf und Terror aus der Schlinge gezogen. Doch diese Trennung ist in der Praxis nicht durchführbar, da beide Seiten organisatorisch eng verknüpft sind. Ermutigt durch Muscharrafs Kampfansage an die Islamisten melden sich nun zum ersten Mal Stimmen, die auch die Kaschmir-Politik überdenken wollen. Bei ihrem kürzlichen Auftritt in New Delhi forderte die frühere Premierministerin Benazir Bhutto die Regierung auf, die Unterstützung von bewaffneten Kaschmir-Gruppen zu beenden. Die Journalistin Mariana Baabar schrieb, es gebe einen wachsenden Konsens in der Elite, dass die Kaschmir-Bewegung den Kaschmirern überlassen werden soll. „Die Elite glaubt, dass es sonst nicht mehr möglich ist, Pakistan von den bewaffneten Dschihadis und ihrer obskurantistischen Philosophie abzuschotten.“ Die internationale Ächtung der religiös begründeten Gewalt verschärft damit den Druck auf Muscharraf, die künstliche Trennlinie zwischen Terror- und Befreiungsgewalt aufzuheben. Damit riskierte er allerdings den Konflikt mit einer Koalition von Islamisten und Armee. Selbst für einen Mann, der Präsident und Oberbefehlshaber in einer Person ist, könnte der Thron dann zu wackeln beginnen.
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