: Genosse Zukunft in der Regierung
Innerparteilich ist das rückwärts gewandte graue PDS-Fußvolk längst ebenso marginalisiert wie in den Reihen der Grünen die Überlebenden der Friedensbewegung. Anders als diese erduldet das PDS-Fußvolk seine Ohnmacht jedoch ohne zu quengeln
von ANDRÉ MEIER
Und lauter als vorher redeten sie ihre Zukunft mit Genosse an. (Heiner Müller)
Berlin, vielleicht im Frühling 2002: George W. Bush steht ganz oben auf der Reichstagstreppe, den Skalp Ussama Bin Ladens am Gürtel. Links ein Kommunist, rechts ein Schwuler und vor seinen Füßen wedelt die Sahra-Wagenknecht-Cheerleader-Group zornig mit aufkaschierten Friedenstauben. Die Sonne scheint, die Kameras laufen und vor den Augen des Präsidenten flimmert ein Zettel, auf dem nichts weiter steht als: „Ich bin ein Berliner!“ George W. Bush bleibt die Spucke weg.
Nein, davon hätte selbst Heiner Müller nicht zu träumen gewagt, als er der PDS-Vorgängerpartei so krachend fröhlich reimend das Morgen versprach. Das war 1964 und in Ostberlin fand das dritte Deutschlandtreffen statt. Eine halbe Million FDJler tummelten sich in der Hauptstadt und riefen, laut Müller, ihren 25.000 geladenen Gästen aus dem Staat der Monopole zu:
Seht das haben wir erreicht
In unserem Staat wo keiner der letzte ist
Sondern auf seinem Platz jeder der erste.
Oder aber tot, wie die Statistik weiß, die an der Berliner Mauer da schon den zweiundfünfzigsten erschossenen Flüchtling registrierte.
Damals zählte Müller ebenso wenig mit wie Rudolf Bahro, der die Mauer im August 61 freudig mit „Endlich!“ begrüßte. Das jedenfalls, schrieb er trostspendend mehr als dreißig Jahre später dem in Moabit einsitzenden Erich Honecker.
Und der DDR-Dissident und Grünen-Mitbegründer legte gleich noch ein Essay mit dazu, in dem er den Mauerbau nüchtern als „militärische Aktion, im Bürgerkrieg, an der geladensten Front der zwei Blöcke“ apostrophiert. Der Spiegel hatte den Text bei Bahro bestellt und dann doch nicht gedruckt, weil es ihm an der „geeigneten Schreibe“ fehlte.
Nein, so richtig schnittig lässt sich das Dilemma wahrlich nicht beschreiben, in dem DDR-Intellektuelle wie Bahro und Müller saßen, als ihre Führung die Grenze des Arbeiter-und-Bauern-Staates tödlich sicher machte. Denn anders als nach 1989 zur Regel geworden, hieße dies, die Vergangenheit im Kontext zu betrachten.
Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer die DDR-Geschichte seziert, kommt nicht umhin, auch die alte BRD unter das Messer zu legen. Wer heute den Terminus „Antifaschistischer Schutzwall“ – völlig zu Recht – als Etikettenschwindel brandmarkt, darf nicht vergessen, wie leicht es der SED gemacht wurde, das schrille Label auf den grauen Beton zu kleben. Immerhin konnte 1966 mit Kurt Georg Kiesinger in Bonn ein Mann Kanzler werden, der von 1933 bis 1945 das NSDAP-Mitgliedsbuch sein Eigen nannte und während des Krieges bis zum Referatsleiter für Propaganda im Reichsaußenministerium aufstieg. Gewählt wurde der CDU-Vorsitzende in sein Amt auch mit den Stimmen der Sozialdemokraten. Jener Partei also, der man heute in Berlin zum Vorwurf macht, sie verhöhne die Opfer des SED-Diktatur, weil sie es wagt, mit ihrer Nachfolgepartei zu koalieren. Dabei geben doch die PDS-Altmitglieder, auf ihre Vergangenheit angesprochen, auch nur zu Protokoll, was im Fall Kiesinger damals als Entschuldigung vollends genügte: Man habe doch lediglich innerhalb der Instanzen Einfluss auf das System nehmen wollen.
Zugegeben, solche Einwürfe kann man mit der Nennung der magischen Zahl 68 vom Tisch fegen, man kann auf Beate Klarsfeld verweisen, die den Ex-NSDAP-Kanzler publikumswirksam ohrfeigte. Oder stolz die vielen Tassen aufzählen, die zu Bruch gingen, als Sohn oder Tochter am anderen Ende der Kaffeetafel plötzlich den SS-Sturmbannführer im Vater ausfindig machten. Und natürlich kann man auch sagen, dass man all dies dem DDRler ersparen wollte, als man im Osten in Parteien, Hochschulen und Redaktionen die Meinungsführerschaft übernahm und all jene in die Wüste schickte, die es an der gebotenen Bußfertigkeit mangeln ließen.
Eine vielleicht notwendige Säuberung, die allerdings darunter litt, dass sie landsmannschaftlich etwas einseitig ausfiel. So schön es auch war, dass fortan die bis 89 dahindümpelnde zweite und dritte Reihe der altbundesrepublikanischen Geistes-, Macht- und Medienelite gut besoldet in ostdeutschen Hotelbars auf ihren Pioniergeist anstoßen konnte. Die Geschichte hatte ihren Preis. Denn dadurch bekam jener Verein Aufwind, der den Verstoßenen Asyl anbot und das ihnen aufgedrückte Paria-Mal zu seinem Markenzeichen machte.
Natürlich haben die Scharen von Berichterstattern, die jetzt mit wachem Ethnologenblick nach Marzahn, Pankow oder Hohenschönhausen ausschwärmen, um die mentale Verfasstheit der neuen Berliner Regierungspartei zu erkunden, Recht. Da sitzen Altersstarrsinn, Intoleranz und Schrebergartenstalinismus Lehne an Lehne und lauschen, was ihnen ehemalige Pionierleiterinnen vom Grabenkampf um die parlamentarische Macht berichten. Doch innerparteilich ist das rückwärts gewandte graue PDS-Fußvolk längst ebenso marginalisiert wie die Überlebenden der Friedensbewegung in den Reihen der Grünen. Freilich erdulden sie – anders als diese – ihre Ohnmacht ohne zu quengeln, bringen brav unters Volk, was ihnen eigentlich gegen den Strich geht: Mauerbau und Zwangsvereinigung als Unrechtsstaat, Homosexualität und Haschischkonsum als Menschenrecht.
Hier wirkt fort, was in der kommunistischen Bewegung spätestens seit Stalin Usus war: Die Partei hat immer Recht. Sie ist nicht Mittel zum Zweck, sondern der Zweck, der alle Mittel heiligt. Der irrationale Drang, sein winziges Sein, komme was wolle, in den Dienst einer hehren Sache zu stellen, war der Kitt, der die Partei zusammenhielt, als die DDR kollabierte und die roten SED-Mitgliedsbücher zu Hunderttausenden in den Müll flogen.
Das fragwürdige Manöver, zu dem sich die SED im Dezember 1989 unter ihrem neuen Parteichef Gysi entschloss, nämlich die kollektive politisch-moralische Katharsis bei gleichzeitig effizientester ökonomisch-organisatorischer Besitzstandswahrung, ist meist nur als pekuniär motivierte Dreistigkeit gewertet worden. Das war es sicherlich, aber eben nicht allein. Es muss auch als Versuch anerkannt werden, für all jene eine Heimstatt zu bewahren, die zu alt, zu belastet oder schlicht aus Überzeugung nicht willens waren, sich im alsbald wiedervereinten Deutschland politisch neu zu positionieren. Diese Klientel geschlossen und weitestgehend reibungslos in die bundesrepublikanische Wirklichkeit überführt zu haben, ist der PDS ebenso anzurechnen wie das karitative Engagement, mit dem sich viele ihrer Mitglieder seit Jahren in der christlichen Diaspora des Ostens hervortun. Doch rührige Rentnerbetreuung und emsige Mieterberatung allein erklären nicht, warum immer mehr und vor allem jüngere Wähler der Partei ihre Stimme geben.
Wer die PDS über ein Jahrzehnt als totalitären Bastard oder demokratisches Schmuddelkind unter den immergleichen Anwürfen am Nasenring durch die Arena zieht, hat es sich selber zuzuschreiben, wenn dem Publikum irgendwann schwant, dass diesem Schauspiel weniger pädagogischer Impetus denn machtpolitisches Kalkül zu Grunde liegt. Und so gehen nun die Daumen nach oben, wird aus dem geschmähten Sammelbecken der Unberührbaren die scheinbar authentischste Vertretung all jener, die ihre Zweifel an der Unfehlbarkeit des Establishments haben.
Wenn im Kampf um eine vermeintlich wahlentscheidende Mitte die Ränder absaufen, wenn bedingungslose Solidarität zur Staatsräson und ein Waffengang der Bundeswehr von allen originär westdeutschen Parteien abgesegnet werden, ist die Diskrepanz zwischen der Gemütslage der bundesrepublikanischen Bevölkerung und ihrer parlamentarischen Spiegelung sogar für seriöse Meinungsforschungsinstitute offensichtlich. Lächerlich, der PDS vorzuwerfen, dass sie die Gunst der Stunde nutzt und versucht, die Lücke zu schließen. Ist es doch ihre einzige Chance, sich vom Image der ostdeutschen Milieupartei zu befreien und sich dort zu etablieren, wo die Sozialdemokraten und die Grünen eine irgendwie Linke rat-, sprach- und führungslos hinterlassen haben.
Berlin wird für diesen überlebenswichtigen Schritt ins westliche Protest-, Alternativ- und Gewerkschaftslager zur entscheidenden Nagelprobe. Anders als in Mecklenburg-Vorpommern ist hier die Regierungsbeteiligung ein Zweifrontenkrieg. Muss doch an der Spree der greise Stasi-Offizier aus Lichtenberg ebenso bedient werden wie der pazifistische Naturkosthändler aus Kreuzberg, die verbeamtete Russischlehrerin aus Pankow ebenso wie der legasthenische Punk oder der türkischstämmige Betriebsrat aus Neukölln.
Ein Drahtseilakt, den die Partei nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Gestern und Morgen vollführen muss. Für die PDS kann dieses Experiment eigentlich nur mit einer Bruchlandung enden. Für die Stadt ist es allerdings die einzige Hoffnung, endlich aus jener Lethargie zu erwachen, die ein todkranker Heiner Müller schon 1994 beschrieb. Zu einer Zeit, als die Zukunft noch so aussah, als wollte sie sich nie wieder Genosse rufen lassen.
Taub sind die Sieger die Besiegten stumm
Ein fremder Blick auf eine fremde Stadt
Graugelb die Wolken ziehn am Fenster hin
Weißgrau die Tauben scheißen auf Berlin.
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