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Die Rüben der Preußen

Als Süßes erschwinglich wurde: Vor zweihundert Jahren errichtete Franz Carl Achard im schlesischen Kunern die weltweit erste Rübenzuckerfabrik

von KARL HÜBNER

Noch Ende des 18. Jahrhunderts musste ein Steinbrucharbeiter in Würzburg etwa fünf Tage arbeiten, um den Gegenwert von einem Kilogramm Zucker zu verdienen. Der Lohn für 175 Tage Arbeit wäre nötig gewesen, um die Menge Zucker zu erstehen, die jeder Bundesbürger heute pro Jahr konsumiert – fast 35 Kilo. Inzwischen ist das süße Gut für alle erschwinglich. Die Grundlage dafür wurde vor zweihundert Jahren geschaffen: Da begann die industrielle Produktion von Zucker aus heimischen Rüben.

Bis dahin galten die süßen Kristalle als Luxusgut und tauchten allenfalls in den Küchen wohlhabender Leute auf – und in Apotheken, wurden dem weißen Granulat doch heilsame Eigenschaften nachgesagt. Ein Grund für den extravaganten Charakter des Zuckers in jener Zeit: Er wurde damals ausschließlich aus Zuckerrohr gewonnen – jenem „süßen Rohr“, von dem schon die Feldherren Alexanders des Großen 327 Jahre vor Christus Kunde aus dem fernen Indien ins östliche Europa gebracht hatten. Und aus dem die Perser um 600 nach Christus zum ersten Mal kristallinen Zucker gewannen.

Seither musste Europa Zuckerrohr immer aus fernen Ländern einführen. Das machte den daraus gewonnenen Zucker teuer. 1372 wird der Preis für ein Kilogramm Zucker in deutschen Landen mit dem zweier Mastochsen gleichgesetzt, 1393 sogar mit dem Preis von zehn Ochsen. Ein anderer Umrechnungskurs ist von 1687 überliefert: Auf der Leipziger Michaelis-Messe konnte man für einen Zentner Zucker eine türkische Frau erstehen – und umgekehrt.

Dass der Zucker im 18. Jahrhundert dann zunehmend als Süßungsmittel von Kaffee, Tee oder Kakao zum Einsatz kommt, ist der preußischen Regierung ein Dorn im Auge, sieht sie doch für die Einfuhr des süßen Guts viel Geld ins Ausland abwandern. In einer Bekanntmachung des Königlich Preußischen Policey-Direktoriums zu Berlin heißt es daher im April 1768: „Der überhand genommene Mißbrauch des Kaffee und Thee muß nothwendig im Betracht des grossen Schadens, der daraus so wohl für die Gesundheit, als auch für das Vermögen der meisten Menschen entstehet, einen jeden Patrioten aufmercksam machen.“ Der vermeintlich gesundheitlich motivierte Ratschlag kaschiert freilich nur die Sorge des durch Krieg verarmten Preußen um seine Staatsfinanzen.

Es kommt noch schlimmer, als Ende des 18. Jahrhunderts die europäischen Zuckervorräte knapp werden. Der Nachschub aus Haiti, damals wichtigster Zuckerlieferant der Alten Welt, versiegt, als der Gleichheitsgedanke der Französischen Revolution die Zuckerinsel erreicht und dort massive Sklavenaufstände auslöst. Seit 1796 laufende preußische Versuche, Zucker aus heimischem Ahorn zu gewinnen, führen nicht weiter. Da kommt ein Gesuch gerade recht, das ein gewisser Franz Carl Achard am 11. Januar 1799 an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. richtet.

Achard, Chemiker und Botaniker im Dienste der Akademie der Wissenschaften in Berlin, ersucht in seiner Schrift, „mich durch Schenkung eines Guthes von hinreichendem Umfang im stande zu setzen, Rüben anzubauen und daraus Zucker zu fabrizieren“. Gemeint sind Runkelrüben, die bis dahin lediglich als Viehfutter Verwendung fanden. Achard vergisst nicht, auf die wirtschaftlichen Vorteile seines Unternehmens zu verweisen: Zucker aus heimischen Pflanzen herzustellen würde erstens einen neuen Erwerbszweig für die Bevölkerung bedeuten und zweitens die Möglichkeit bieten, die Ausgaben für die Einfuhr von rohem Rohrzucker einzusparen.

Dem Antrag legt Achard gleich noch eine Reihe von Gutachten bei: Die Berliner Zucker-Siederei-Compagnie bestätigt darin die Eignung des von Achard gewonnenen eingedickten Rübensirups für die Verarbeitung zu Zucker, und auch Martin Heinrich Klaproth, Professor an der Universität Berlin, bescheinigt den „reichlichen Zuckergehalt“ der von Achard versuchsweise kultivierten Rüben.

Schon seit den 1780er-Jahren hatte Achard nahe Berlin Anbauversuche mit heimischen Pflanzen gemacht, um aus ihnen Zucker zu gewinnen – und dabei Erkenntnisse aufgegriffen, die schon fast vierzig Jahre alt waren. Bereits 1749 nämlich hatte der Chemiker Andreas Sigismund Marggraf publiziert, wie er aus dem Saft von heimischen Pflanzen ein „Salz“ gewonnen habe, das er „wahren Zucker“ nannte, weil seine Kristalle unter dem Mikroskop identisch mit denen des Rohrzuckers waren. In drei Pflanzen war er auf besonders viel wahren Zucker gestoßen: im Weißen Mangold (Runkelrübe), in der Zuckerwurzel und im Roten Mangold (Rote Bete).

Achard widmete sich in seinen Versuchsreihen zunehmend der Runkelrübe als Zuckerlieferantin. Er testete dabei auch Rüben aus Magdeburg, Halberstadt und dem Braunschweiger Raum. In seinen Testreihen stieß er auf eine Rübenart, die ihm besonders geeignet schien: eine Runkelrübe „mit weißem Fleisch und weißer Schale, schmalen Blattstielen und nicht sehr großen Blättern“. Später wird sie als „Weiße Schlesische Rübe“ bezeichnet werden.

Bereits um 1780 hatte der gebürtige Berliner und Nachfahre einer Hugenottenfamilie als landwirtschaftlicher Tüftler große Erfolge bei Verbesserungen der heimischen Tabakkulturen erzielt. Diese brachten ihm schon früh eine lebenslange Rente als Auszeichnung von Friedrich dem Großen ein.

Dessen Nachfolger, Friedrich Wilhelm III., seit 1797 als Regent im Amt, reagiert schon vier Tage nach Achards Immediatgesuch. Am 15. Januar 1799 verfügt er, in allen Provinzen, in denen bereits Zuckersiedereien bestehen, Runkelrüben in großem Maßstab anzubauen. Zugleich werden staatliche Kommissionen gebildet, um Achards Behauptungen zu überprüfen.

Weitere Versuche an der Berliner Akademie der Wissenschaften belegen tatsächlich die Raffinierbarkeit des aus Runkelrüben gewonnenen Rohzuckers – und damit die Möglichkeit, reinen Weißzucker herzustellen. Entsprechende Berichte führen schließlich dazu, dass Achard vom Hof ein Darlehen von fünfzigtausend Talern erhält. Noch im Jahr 1801 erwirbt Achard von dem Geld das Rittergut Kunern im niederschlesischen Kreis Wohlau. Fortan gilt Achards ganzer Eifer dem Rübenanbau und der Einrichtung seiner Fabrik, der weltweit ersten Fabrik zur Erzeugung von Rübenzucker.

Inzwischen hat die Weiße Schlesische Rübe bereits den Namen „Zuckerrübe“ erhalten. Doch nicht Achard hat seiner favorisierten Frucht die neue – und bis heute gültige – Bezeichnung verliehen, sondern ein Professor aus Leipzig.

Das Waschen der Rüben, das Zerkleinern mit einer Kartoffelschneidemaschine und einem Walzwerk, das Auspressen des Saftes, die chemische Abtrennung von Eiweißen, das Klären in der Klärpfanne und das abschließende Eindicken zu Sirup und zu Rohzucker – für alle Arbeitsschritte ist Achards Fabrik mit eigenen Anlagen eingerichtet. Lediglich zum Raffinieren wird der Rohzucker aus Kunern ins fünfzig Kilometer entfernte Breslau transportiert.

Im März 1802 beginnt die Zuckerproduktion: mit rund vierhundert Tonnen Rüben aus dem Erntejahr 1801. Und mit einer Enttäuschung: Die Ausbeute bleibt mit etwa sechzehn Tonnen Rohzucker, das sind vier Prozent, hinter den Erwartungen zurück – 1800 hatten Versuche mögliche sechs Prozent ergeben.

Nach der Enttäuschung über seine erste Produktion arbeitet Achard emsig an technischen Verbesserungen und der Optimierung des Anbaus. Und widmet sich zugleich der Suche nach Nebenverwertungsmöglichkeiten seiner Rüben: Die Palette reicht schließlich von Branntwein- und Essigerzeugung aus der Melasse über Kaffeesurrogate aus den Rübenschnitzeln bis hin zum Einsatz der Rübenblätter als Streckmittel starker Tabake. So gelangt das Geschäft mit den Rüben endgültig in die Gewinnzone.

In den nächsten Jahren entstehen weitere Rübenzuckerfabriken: in Schlesien, Bayern, Böhmen, in der Magdeburger Börde, im Rheinland, sogar im russischen Aljabijew. 1807 brennt die Rübenzuckerfabrik in Kunern ab. Vorübergehend trägt sich Achard mit dem Gedanken, auszuwandern. Ohnehin bietet diese Gegend Schlesiens nicht die optimalen Anbaubedingungen für Zuckerrüben. Doch Achard bleibt, baut ein neues Produktionsgebäude und veröffentlicht 1809 sein Hauptwerk, „Die europäische Zuckerfabrikation aus Runkelrüben“. Von 1810 bis 1815 nutzt er – inzwischen im Ruhestand – das Fabrikgebäude in Kunern als Lehranstalt für Zuckergewinnung. Die Schüler kommen selbst aus dem Ausland.

Seinen ersten Boom erfährt der Rübenzucker durch einen Franzosen: Kaiser Napoleon. Der verhängt im November 1806 die so genannte Kontinentalsperre, die die Einfuhr britischer Kolonialwaren – und damit auch des Rohrzuckers aus der Karibik – auf dem europäischen Kontinent weitgehend verhindert. Nun greifen auch die Franzosen Achards Wissen begierig auf: Schon 1812 produzieren über 150 französische Betriebe Zucker aus Rüben. In Deutschland hat sich mittlerweile Magdeburg zum Zentrum der Zuckerproduktion entwickelt. Täglich werden hier etwa fünfzig Tonnen Rüben verarbeitet.

Doch dann wird Napoleon gestürzt und die Kontinentalsperre aufgehoben. Aus den randvollen englischen Lagern kommt karibischer Rohrzucker billig auf den Markt und drängt den Rübenzucker wieder zurück. Fast alle deutschen Rübenzuckerfabriken müssen schließen. Diesen Niedergang erlebt Achard noch mit, ehe er am 20. April 1821 in Kunern stirbt. Doch bis zuletzt glaubt er fest an eine Zukunft der Rübenzuckerindustrie.

Er sollte Recht behalten. Schon in den 1830er-Jahren ändert sich die Zollpolitik gegenüber Rohrzucker abermals und macht die Eigenproduktion erneut interessant. Außerdem fällt vielen Deutschen der Erfolg der französischen Rübenzuckerfabriken auf, etwa dem Chemiker Justus von Liebig, der zu einem Promotor des heimischen Zuckerrübenanbaus wird. Schon Ende der 1830er-Jahre erzeugen über 150 Fabriken deutschen Rübenzucker.

Der Boom hält an. Und der Zucker wird erschwinglicher. Die letzte deutsche Raffinerie, die importierten Kolonialzucker verarbeitet, wird 1885 in Hamburg stillgelegt. Zu der Zeit existieren etwa vierhundert Betriebe, die Rübenzucker produzieren. Aufgrund von Produktivitätssteigerungen und Verbesserungen im Transport geht diese Zahl von nun an aber zunehmend zurück. 1960 beträgt sie noch zweihundert, 1999 nur noch 32. Zugleich werden immer mehr Rüben verarbeitet: Waren es 1890 etwa zweihundert Tonnen pro Tag, sind es heute rund neuntausend. Etwa vier Prozent der deutschen Ackerfläche werden heute für den Anbau von Zuckerrüben genutzt. Rund 4,3 Millionen Tonnen Zucker werden daraus erzeugt, von denen knapp siebzig Prozent im Inland verbraucht werden – ein Fünftel als Haushaltszucker, der Rest wird weiterverarbeitet. Der Pro-Kopf-Verbrauch allerdings ist leicht rückläufig – künstliche Süßstoffe sind auf dem Vormarsch.

Derzeit wird Zucker in 127 Ländern produziert. Der Rohstoff hängt dabei vom Klima ab. In 48 Ländern ist das die Zuckerrübe – Achards Erbe ist gewaltig. Und seine Fabrik in Kunern? Die wurde im Januar 1945 von den russischen Besatzern niedergebrannt. Heute heißt Kunern Konary und gehört zu Polen. An die Anfänge der Rübenzuckerindustrie erinnern ein kleines Achard-Relief sowie eine viersprachige Gedenktafel.

KARL HÜBNER, 37, ist Chemiker und Journalist. Er lebt in Köln. Zucker mag er vor allem im Eiergrog seines Vaters, der aus Kunern stammtIm Berliner Zuckermuseum ist noch bis zum 31. Januar 2002 die Ausstellung „Mit Landesväterlicher Freude vernommen – Rübenzucker in Preußen“ zu sehen

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