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„Bin Laden ist ein homoerotischer Narziss“

Aus der Abwehr von Trauer kann narzißtische Wut entstehen, sagt die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich. Dann will man sich rächen - ob man Bush oder Bin Laden heißt

Interview BASCHA MIKA

taz: Frau Mitscherlich, nach dem 11. September durchlebten Menschen in allen Teilen der Welt dieselben Gefühle. Es herrschte kollektives Entsetzen, Angst, Trauer. Jeder kennt Trauer im persönlichen Bereich als Reaktion auf einen Verlust. Wie kann ein Land, eine Nation trauern?

Margarete Mitscherlich: Zuerst kommt der Schock. Da passiert etwas, das man nie erwartet, was man einfach nicht für möglich gehalten hat. Das kann zu einem gemeinsamen, einem nationalen Schock führen, wie wir es in den USA beobachten konnten. Mit dem World Trade Center ist ja auch ein nationales Symbol angegriffen worden.

Können die Toten vom World Trade Center bei einem Farmer im Mittleren Westen der USA tatsächlich ein starkes Verlustgefühl ausgelöst haben?

Nicht so wie im persönlichen Bereich. Da kann das Gefühl des Verlustes so stark sein, dass man glaubt, nicht mehr existieren zu können, wenn einem ein geliebter Mensch verloren gegangen ist. Aber was die Amerikaner gewiss kollektiv empfunden haben, ist der Verlust an Sicherheit. Von einem Moment zum anderen verändert sich die Welt, und das, was sie symbolisch zusammengehalten hat – die Gefühle des Stolzes und der Unverletztlichkeit –, wird zerstört. Als eine Folge muss der Isolationist Bush in die Welt hinausgehen, um Verbündete zu suchen. Das alles beschädigt den nationalen amerikanischen Traum.

Freud sah Trauer als Reaktion auf den Verlust eines Menschen oder einer Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, eines Ideals . . .

Das sehe ich genauso. Wobei nationale Trauer in der Regel durch den Verlust eines gemeinsamen Ideals ausgelöst wird.

Im privaten Bereich gibt es Rituale, um mit Trauer fertig zu werden. Welche Mechanismen zur Bewältigung hat ein ganzes Land?

Dass es zum Beispiel besonders eng zusammenrückt . . .

Ja, ganz sicher. Die Fahnen, die überall in den USA geflaggt wurden, gehören zu diesen Bewältigungsmechanismen. Eine amerikanische Zeitung schrieb kurz nach den Anschlägen über die Attentäter: „Findet sie, nagelt sie fest, bombardiert sie, und dann bombardiert ihre rauchenden Trümmer ein weiteres Mal.“ Was hat das mit Trauer zu tun?

Denken Sie an den verlorenen Ersten Weltkrieg, der mit solcher Begeisterung begonnen wurde, auch um die Wunde einer „verspäteten Nation“ zu heilen. Unsere Ideale waren verloren, auch die Ideale unseres Selbst, unsere nationale Selbstliebe war enorm verletzt, wir fühlten uns erniedrigt. Daraus kann sehr leicht eine narzisstische Wut entstehen. Dann ist man blind gegenüber jeder Selbstreflexion.

Aggression, um sich der Trauer zu entziehen? Oder bedingen sich Trauer und Wut?

Narzisstische Wut, Gekränktheit und Abwehr vonTrauer können sehr wohl zusammenhängen. Dann will man sich rächen. Diese Wut war in Hitler verkörpert, der die Fantasien der Deutschen bediente, endlich mal wieder jemand zu sein.

Was zum Krieg führte. Im Krieg braucht es ein Feindbild. Das funktioniert am besten, wenn es als absolut Böses daherkommt, wie etwa Bin Laden.

Das ist natürlich Unsinn. Auch Bin Laden ist nicht „das“ Böse. Er ist ein publikumssüchtiger, homoerotischer Narziss. Dass er sich als Heiland stilisiert, zeigt, dass er sich als Opfer fühlt: der große Erlöser, der die Welt vor dem verkommenen Westen retten will und entscheidet, wer gläubig und wer ungläubig ist, wer leben darf und wer sterben muss.

Der Terrorist als homoerotischer Narziss?

Die Männerwelt der fundamentalistischen Islamisten ist natürlich stark homoerotisch geprägt. Frauen sind keine Menschen, es ist, als ob sie nicht existieren, kein individuelles Gesicht zeigen dürfen.

Wie erklären Sie psychoanalytisch den Frauenhass der Taliban?

Der islamische Fundamentalismus ist widerlich, ein mittelalterlicher Faschismus. Unerträglich. Aber warum die Männer so werden? Ich weiß es nicht. Ich würde sie gerne mal analysieren, aber diese Männer würden natürlich nie eine Analyse machen, nie und nimmer. Selbstreflexion ist ihnen kaum bekannt, die Aufklärung, die die westliche Welt so geprägt hat, ist ja bekanntlich am islamischen Fundamentalismus vorbeigegangen.

Auch wenn Ferndiagnosen unseriös sind: Versuchen Sie es doch mal?

Klar ist, die Taliban sind narzisstische Männer, die sich dem Westen gegenüber zweitrangig fühlen und Frauen als letzte Möglichkeit brauchen, um sich überlegen zu wähnen. Um ihre Männerwelt aufrechtzuerhalten, missbrauchen die Fundamentalisten ihre Religion.

Rechtfertigt das die Bomben auf Afghanistan?

Ich finde Krieg schrecklich, aber in Afghanistan, bei dieser Art fanatischem Terrorismus, hätte ich keinen anderen Weg gewusst. Ich bin keine Anhängerin dieses selbstgerechten Gewissens, das die Kriegsgegner, ohne zu differenzieren, vor sich her tragen.

Wer sich auf sein Gewissen beruft, darf als selbstgerecht beschimpft werden?

Die Haltung der Kriegsgegner aus Prinzip besagt doch: Wir haben die Ideale, wir sind die Guten, die anderen sind dumm, unmoralisch et cetera.

Die Argumente der Kriegsbefürworter folgen demselben Schema: Wir wissen, was nötig ist, die anderen sind naiv . . .

Sie sagen aber auch: Die Realität ist nun mal so, und danach müssen wir handeln. Während die anderen narzisstisch ihr Gewissen behüten.

Also die einen sind die gesunden Realisten und die anderen die gestörten Narzissten?

Oh nein. Das ist wieder dieses Denken in den Kategorien Gut und Böse. Es geht darum, Ambivalenz zu ertragen, genau hinzusehen, eine Realität wahrzunehmen, der wir bisher nicht begegnet sind. Ich für mich sage mir: Was nutzt es dir, wenn du an deinem Gewissen hängst, aber auch kein besseres Medikament hast, um zu heilen, was zu heilen wäre?

Noch einmal zurück zur Trauer. Nach einer gängigen Theorie gibt es, vereinfacht gesagt, vier Phasen der Trauerverarbeitung: den Schock, die Kontrolle, die Regression und die Adaption. Über den Schock sprachen wir bereits. Im privaten wie öffentlichen Bereich ist die Phase der Kontrolle durch Trauerrituale und die Anteilnahme der Gesellschaft gekennzeichnet.

Sie soll verhindern, dass der Trauernde aus der Bahn gerät.

Auch diese Phase konnten wir in Bezug auf die USA beobachten: die Betroffenheit in großen Teilen der Welt, die Solidarität mit der amerikanischen Bevölkerung, der internationale politische Beistand. Jetzt wären wir also in Phase drei, der Regression.

. . . die mit Aggression – in diesem Fall kriegerischer Gewalt, nachdem die Taliban auf kein Angebot eingingen – gepaart sein kann. Diese Reaktion ist verständlich. Schließlich kann man nach so einem Verlust keine hoch differenzierten Gefühle voraussetzen und immer nur Vernunft.

Gehen wir zur Phase vier, der Adaption, der Überwindung der Trauer, des Wiederheilwerdens . . .

. . . obwohl es die „heile“ Welt natürlich nie geben wird.

Meinetwegen, trotzdem muss es einen Weg heraus aus der Trauer geben, zurück in die Normalität, auch für die USA.

Der Prozess der Trauer ist langwierig. Die Normalität geht daneben immer weiter, wird aber danach eine andere sein.

Frau Mitscherlich, danke für dieses Gespräch.

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