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Aus dem Kraftwerk der Gefühle

Zum Jubiläumsjahr 2001, seinem 100. Todestag, wurden Giuseppe Verdi und sein Werk mal in die Zeit von Berlusconi, mal in einen Dialog mit der Dichterin Sylvia Plath gesetzt. Von Hamburg über Stuttgart bis Oldenburg: Ein Rückblick auf die bemerkenswertesten Inszenierungen des Jahres

Dennoch führen Gedenkjahre immer wieder zu neuen Denkanstößen

von FRIEDER REINIGHAUS

Der Kalender ist nur sehr bedingt ein guter Dramaturg. Dennoch führen Jubel- oder Gedenkjahre, die der Kulturbetrieb seinen längst verblichenen Kunst- und Geistesheroen widmet, immer wieder zu neuen Denkanstößen und Wahrnehmungsweisen. Einem dergestalt hoch gesteckten Ziel wurde das nun zu Ende gehende Verdi-Jahr 2001 – anlässlich des 100. Todestags – in verschiedenen Ansätzen gerecht. Die bedeutenden Forschungsergebnisse, die auch die Theaterlandschaft und die Verdi-Rezeption beeinflussten, sind allerdings älteren Datums. Der Paradigmenwechsel, der auch nördlich der Alpen Giuseppe Verdi als einen der ganz großen, vielleicht als den zentralen Musikdramatiker anerkannte, vollzog sich mählich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Er lässt sich nicht an einem bestimmten Punkt lokalisieren.

Dennoch ist ein bedeutender musikalischer Nachtrag zu melden: Neu hinzu gekommen ist die Rekonstruktion einer großen fünfaktigen französischen Fassung des „Don Carlos“ – mit Musikpassagen, die Giuseppe Verdi bereits während der Endproben für die Uraufführung 1867 in Paris ausschied. Vollen dramatischen und insbesondere auch musikalischen Sinn gewinnt das Werk wohl überhaupt nur in einer der beiden fünfaktigen Versionen – der Komponist arrangierte nach der Übertragung ins Italienische und den Kürzungen auf vier Akte schließlich auch noch eine italienische Fassung mit wiederhergestelltem Fontainebleau-Bild. Die Hamburgische Staatsoper und ihr Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher haben für diese exquisite Bereicherung des Verdi-Kontinents gesorgt. Die Zusammenhänge, die Gegensätze und das Innehalten, die Vielfalt der Verdi’schen Farben und Schattierungen erschienen mit äußerster Umsicht ausgeleuchtet – das plakative Ausstellen der Kontraste wurde ebenso vermieden wie ein allzu großer Hang zur Homogenisierung. Und aufgeboten war (mit Danielle Halbwachs, Jeanne Piland, Robert Hale und Jean-Luc Chaignaud) ein insgesamt vorzügliches Solistenensemble.

Eingetrübt erschien die musikalisch sensationelle Hamburger „Don Carlos“-Produktion durch die Regiearbeit von Peter Konwitschny, der zum Verdi-Jahr in Graz bereits einen radikal reduzierten, um einen Müllcontainer mit Theaterrequisiten angesiedelten „Falstaff“ beigesteuert hatte. In Hamburg griff Konwitschny für das Eröffnungsbild, den winterlichen Wald bei Fontainebleau, noch einmal tief in die Rumpelkammer des sozialen Realismus seiner alten Heimat DDR: Holzfäller mit bedrohlich geschwungenen Äxten und echt arme Leute auf der Bühne. Ansonsten ging es bei der Darstellung der alten Habsburger zu wie bei Hempels auf dem und unterm Sofa. Das von Verdi bewusst knapp gehaltene Autodafé wurde als totales Theater inszeniert: Die Solisten und die Mitglieder des Orchesters schweiften durch Foyers und Zuschauerraum; die Operngänger wurden zwangsweise zu Voyeuren der grausamen Hinrichtung gemacht, die als etwas ganz Heutiges vorgeführt wurde.

Seelenmüll-Landschaft

Vorgezogene Auftakte zum Verdi-Jahr und termingerechte Beiträge stellten sich landauf und landab ein. In Köln sorgte Karin Baier für einen in die Welt des Medienzaren und Ministerpräsidenten Berlusconi transponierten „Rigoletto“. In Wuppertal und am Musiktheater im Revier (Gelsenkirchen) Nicholas Broadhurst für einen ins kaputteste London von heute verpflanzten „Falstaff“. Der Verdi-Zyklus des Aalto-Theaters in Essen, den Stefan Soltesz und Dietrich Hilsdorf seit Jahren entwickeln, wurde mit einer auf die Revolutionszeit von 1848 bezogenen „Luisa Miller“ fortgesetzt und einer als Neuproduktion deklarierten Wiederaufnahme des neuerlich plump provozierenden „Troubadours“.

Der kam zuletzt, von Nicolas Brieger und Ausstatter Karl Kneidl krass als Nachtstück und Seelenkrankheitserkundung in schwarzem Bühnenkasten betrieben, auch an der Staatsoper Stuttgart noch einmal zu schroffer Wirkung.

Eine hermetisch geschlossene Welt als Seelenteppichlandschaft präsentierte auch Peter Mussbach mit Erich Wonder an der Berliner Staatsoper zu „Macbeth“: Als psychoanalytisches Schlüsselloch erwies sich ein Kanalschacht an der Vorderseite der strategischen Anhöhe im Vordergrund der Bühne: Aus diesem Gully kamen die Kriegsheimkehrer Macbeth und Banco, aus ihm ragten einige Erscheinungen der großen Prophezeiung, aus ihm wand sich am Ende die schlafwandelnde Lady Macbeth hervor, und dorthin verkroch sie sich auch zum Sterben – in eine unter ihm zu vermutende Unterwelt, dem Ziel des letzten Auswegs. Und kühl bis ans Herz ließ Michael Gielen einen dezidiert kantigen und grantigen Ton anschlagen: Das entsprach solchem Regietheaterstandard in adäquater Weise.

Die wohl bemerkenswerteste Anstrengung zum Verdi-Gedenkjahr unternahm die Stuttgarter Staatsoper mit der Uraufführung von „Giuseppe e Sylvia“. Hans Neuenfels versuchte sich, angeregt von einem Foto des Trauerkondukts für Verdi und seine Frau Giuseppina im Jahr 1901, neuerlich als Theaterdichter. Er brachte – frei assoziierend – den großen Komponisten des italienischen Risorgimento, den Promotor des „Kraftwerks der Gefühle“ in einen pikanten, intimen, keineswegs konfliktfreien Zusammenhang mit der aus Bekenntnistrieb schreibenden, tief auf weibliche Identitätssuche gehenden, ziemlich neurotischen amerikanischen Dichterin Sylvia Plath. Verkuppelt wurden da zwei, die im realen Leben so wenig miteinander zu schaffen haben wie in ihren Künsten. Doch das hat durchaus Tradition: Schon im ersten Kapitel von Franz Werfels Verdi-Roman findet sich eine Episode, die ausschließlich auf freie Erfindung zurückgeht: Der italienische Maestro belauert hier seinen deutschen Konkurrenten Richard Wagner, weil dessen Existenz – „immer einer behänder als du“ – ihm die Luft abzuschnüren begann.

Freuds Stiefbruder

Ein Regisseur, so die Fiktion des Neunfels’schen Librettos, wolle nun einen Film drehen über die Begegnung des Komponisten, der für das fortschrittsgläubige 19. Jahrhundert repräsentativ war, mit der Dichterin Plath als Vertreterin eines hysterischen, beschädigten, selbstzerstörerischen 20. Jahrhunderts. In 13 Sequenzen zwischen Diesseits und Jenseits, Gegenwart und Vergangenheitsbeschwörung kommt es zur kunstsinnigen Begegnung. Gewürzt wird die noch durch den als Katalysator eingebauten schönen Roberto, das Opfer eines Ritualmordes.

Die eigentliche Konfrontation der Biografien und Arbeitskonzepte bei der Begegnung zwischen der Dichterin Sylvia und dem Meister Verdi erwies sich zunehmend eher als Partyplausch denn als gedankliche Konfrontation zweier Epochen – aber auch hierin zeigte sich der genialische Neuenfels trendy. Züge hin zum schicken Schrecken entwickelte auch der raumgreifende Tonsatz von Adriana Hölszky, die ihrer Musik eine konsequente Raumordnung auferlegte: die akustischen Aktionen im Orchestergraben, die Cantilenen, Sprechgesänge und Prosaeinlagen auf der Bühne werden von einem seitwärts postierten Sprecherensemble sowie Chor- und Schlagzeug-Supplement von den Rängen komplettiert.

Das Staatstheater Oldenburg präsentierte das mit guten Gründen anfechtbare Werk im Sommer dieses Jahres noch einmal – die inzwischen nachgebesserte Hölszky-Musik entfaltete ihre überschießenden, in den ganzen Theaterraum ausgreifenden Potenziale nun effektiver. Der Oldenburger Intendant Stephan Mettin inszenierte die ambitionierte Reflexion über Kunst, Künstler, Tod und Ewigkeit zum Wohle des Werks als Konversationsstück mit sehr, sehr schönen Episoden.

Verdi, Tod und Ewigkeit

Den Willen, neue Verdi-Aspekte in durchaus altgedienten Kontexten zu eröffnen, stellte auch die Deutsche Oper Berlin unter Beweis. Achim Freyer versammelte zur „Messa da Requiem“ noch einmal sein ganzes Arsenal allegorischer und theaterfantastischer Figuren auf einer in drei Ebenen geteilten, schwarz ausgeschlagenen Bühne: ein neobarockes Welttheater, altersweise und doch auch von einem kindlich gebliebenen Gemüt gespeist.

Achim Freyers tief beziehungsreicher Figurenzauber kontrapunktierte die an dramatischen Erfahrungen reiche geistliche Musik. Das ruhige, überaus gelassene Vorbeiziehen des aus vielen geografischen und historischen Zonen genährten Theaterpersonals erinnerte nicht zufällig immer wieder an die Aufzüge der biblischen und allegorischen Figuren aus den Uhren der frühen Neuzeit, wie sie im Straßburger Münster oder im Dom zu Münster heute noch zu bewundern sind: Memento mori.

Das Gedenkjahr 2001 hat keine wesentlich neuen Aspekte zum Leben und Werk Giuseppe Verdis freigesetzt. Allerdings hat es die vielgestaltige Musiktheaterlandschaft in Deutschland dazu animiert, eine breite Palette moderner Regieoptionen auszustellen. Verdi steht so selbstverständlich und fortdauernd im Mittelpunkt, dass man sich keine Sorge zu machen braucht um die Vitalität seiner Werke. Gerade auch der morbiden.

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