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Wo Jungs lieber Mädchen wären

Das Frauen-und Mädchenprojekt Karola in der Marktstraße ist mehr als eine Teestube: die spendenfinanzierte Institution hilft bei der Integration im Viertel.  ■ Von Annette Kohlmüller

Stolz präsentiert Pipi ihr Werk: Die ganze Wand entlang hängen bunte Bilderrahmen mit Fotos ihrer Freundinnen, von Verwandten oder Leuten auf der Straße. „Guck mal, das ist die Gemüsefrau von nebenan. Und das ist mein Bruder. Und das das Mädchen, in das er verliebt ist.“ Mit leuchtenden Augen führt die Dreizehnjährige Besucherinnen durch die kleine Ausstellung im Frauentreff Karola. „Zwanzig Filme habe ich verknipst“, erzählt sie stolz. „Vielleicht werde ich später ja Fotografin.“

Gemeinsam mit zehn anderen Mädchen ist sie vier Tage lang mit der Kamera auf die Straße gegangen und hat fotografiert. Unter Anleitung der Fotografin Marily Stroux ist so eine Porträtsammlung von Menschen aus einem der ärmsten Stadtviertel Hamburgs entstanden. Pipi ist eines von vielen Roma-Mädchen, die rund um die Marktstraße in Altona wohnen und regelmäßig ins Karola kommen. Dort, in einem alten Ladenlokal zwischen der „Markt-stube“ und einem Geschäft für trendige Designer-Kleidung, können sie klönen, Tee trinken, Hausaufgaben machen oder an Aktionen wie dem Fotokurs teilnehmen.

„Wir wollen die Mädchen fördern, uns aber an ihren Interessen orientieren“, so Anja Drobek, langjährige ehrenamtliche Mitarbeiterin bei Karola. Die studierte Ethnologin berichtet, dass viele der Roma-Mädchen, die ins Projekt kommen, kaum lesen und schreiben können. Da sie oft bereits mit dreizehn oder vierzehn Jahren verheiratet werden, spielt Schulbildung für sie kaum eine Rolle. Viele ziehen dann zu ihrem Mann in eine andere Stadt. „Diese Kinder erreichen wir nicht mit klassischer Nachhilfe“, sagt Anja Drobek. „Vielmehr müssen wir versuchen, sie mit praktischen Aufgaben zum Lernen zu bewegen.“ Zum Beispiel hantieren die Mädchen gerne am Computer. „Das greifen wir auf und ermuntern sie dazu, ganz spielerisch Sätze zu basteln oder einfache Rechenaufgaben zu lösen.“

Die vom Jugendamt Hamburg-Mitte mitfinanzierte Schulförderung ist ein Schwerpunkt der Arbeit bei Karola. Daneben gibt es für junge und alte Frauen aller Nationalitäten Deutschkurse, eine Sozialberatung, Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche und Unterstützung bei Behördengängen. Auch für ganz alltägliche Probleme wie Streit mit der Familie oder den Nachbarn haben die Mitarbeiterinnen immer ein offenes Ohr. Meist finden solche Gespräche beim Brötchenschmieren in der Küche statt.

„Ein ganz wichtiges Thema ist Sexualität und Verhütung“, berichtet Anja Drobek. Bei einem Informationsabend mit Pro Familia war das Gedränge so groß, dass die Räumlichkeiten kaum ausreichten. „Und am Ende“, erzählt sie lachend, „war sogar die Plastik-Gebärmutter verschwunden. Das hat eine wohl besonders interessiert.“

Insgesamt arbeiten sieben Frauen ehrenamtlich im Projekt. Drei zusätzliche Mitarbeiterinnen sind auf Honorarbasis angestellt. Chris-tine Solano hat seit August eine halbe Stelle, die mit Spendengeldern des Gruner und Jahr Verlages eingerichtet werden konnte. Die Mittvierzigerin lebt selbst im Viertel und ist mit Leib und Seele Sozialarbeiterin. Seit Jahren engagiert sie sich für Jugendliche in Altona und St. Pauli. Auch wenn sie nicht im Dienst ist, kommt sie selten zur Ruhe: Überall trifft sie „ihre“ Mädchen. An einen ruhigen Einkauf oder daran, ohne einen kleinen Schwatz nach Hause zu gehen, ist für sie nicht zu denken.

Wie lange Christine Solanos Stelle im Karola noch finanzierbar bleibt, ist allerdings unklar. Auch Projekte wie die Fotokaktion mit Pipi und ihren Freundinnen sind nur durch Spenden – in diesem Fall von der Hamburger Bürgerstiftung – möglich. „Unsere zerstückelte und unsichere Finanzierung ist natürlich ein großes Problem“, betont Solano. Sehr viel Zeit gehe für die Verwaltungsarbeit verloren und langfristige Planungen seien selten zu verwirklichen.

Dass die Arbeit des Projekts erfolgreich ist, zeigen viele positive Rückmeldungen von Besucherinnen und AnwohnerInnen. Vor allem freuen sich die Mitarbeiterinnen aber, wenn die Mädchen durch ihre Arbeit eine positive Entwicklung nehmen. „Pipi zum Beispiel“, erzählt Anja Drobek, „war früher sehr unzugänglich. Sie hatte ,Null Bock auf Nichts', war aggressiv und in sich gekehrt.“ Erst durch das Foto-Projekt sei sie offener und selbstbewusster geworden. „Pipi hat gelernt, auf andere Menschen zuzugehen. Und als Fotografin wurde sie im Viertel plötzlich beachtet und anerkannt. Das hat ihr sehr gut getan.“ Sogar an den Texten der Bildunterschriften hat sich Pipi, die sonst kaum für gedruckte Worte zu begeistern war, voll Eifer beteiligt.

„Das Erfolgsrezept von Karola liegt sicherlich darin, dass wir im Viertel sehr akzeptiert sind“, sagt Anja Drobek. Viele Eltern, selbst die Väter, unterstützen es, wenn ihre Töchter hierher kommen. Als besonderes Zeichen der Anerkennung laden sie die Mitarbeiterinnen sogar manchmal zu Hochzeiten und Familienfesten ein.

Im allgemeinen gibt es mit den Männern des Viertels sehr wenig Probleme. „Am Anfang, als wir hier noch neu waren, haben die Jugendlichen öfter gegen die Scheibe und Tür getreten. Die kannten das ja nicht, so einen Ort, wo sie nicht zugelassen waren“, erzählt die Mitarbeiterin. Doch das kommt nur noch selten vor. Mittlerweile ist es so, dass die Männer selbst ab und zu kommen und Rat suchen. „Dann reden wir natürlich mit denen und versuchen zu helfen. Aber wir gehen immer vor die Tür“. Ganz selten macht Anja Drobek aber doch eine Ausnahme: Der fünfjährige Bruder von Pipi darf hereinkommen und sich die Ausstellung seiner Schwester ansehen. „Der stand weinend vor der Tür und schrie, dass er auch ein Mädchen werde wolle. Da konnte ich doch nicht nein sagen.“

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