: „Die Freiheit anderer wird geopfert“
Interview mit Nadine Strossen, Präsidentin der American Civil Liberties Union (Aclu), der mit fast 300.000 Mitgliedern größten US-Bürgerrechtsorganisation, über den harten Kurs bei der inneren Sicherheit und die Stimmung im Land
taz: Haben die Anschläge vom 11. September auch das amerikanische Verständnis von Freiheit verändert? Sind die Amerikaner heute bereit, Freiheit für Sicherheit einzutauschen?
Nadine Strossen: Nein, die Amerikaner sind im Moment vor allem bereit, die Rechte und Freiheiten anderer für die eigene Sicherheit zu opfern.
Wie meinen Sie das?
Solange Maßnahmen wie die Massenverhaftungen vor allem Einwanderer zu treffen scheinen, werden sie von der breiten Masse der Amerikaner akzeptiert.
Betrifft die eher unfreundliche Stimmung gegenüber Einwanderern vor allem Muslime und Menschen aus dem Mittleren Osten?
Nein, die Stimmung ist gegenüber allen Einwanderern tendenziell aggressiv und unfair. So werden viele der aktuellen Verhaftungen mit kleineren und eher technischen Vergehen gegen Immigrationsgesetze begründet, für die man früher nie in Haft gekommen wäre. Heute aber ist dies übliche Reaktion: „Wenn die sich nicht an unsere Gesetze halten, sind sie selbst schuld.“
Sind die Massenverhaftungen schon eine erste Anwendung des „Patriot“-Gesetzes, das Ende Oktober beschlossen wurde und der Regierung zahlreiche neue Befugnisse im Bereich innere Sicherheit gibt?
Nein, die Verhaftungen haben ja schon viel früher begonnen. Die Polizei stützt sich hier vor allem auf Gesetzesverschärfungen aus dem Jahr 1996, die nach dem Bombenanschlag von Oklahoma eingeführt wurden.
Wie lange wird die Bereitschaft währen, den harten innenpolitischen Kurs der Regierung mitzutragen? Wird sich die Stimmung nach einem Ende des Militäreinsatzes in Afghanistan wieder ändern?
Nein, das glaube ich nicht. Präsident Bush hat ja immer gesagt, der Krieg gegen den Terrorismus wird ein langer Krieg an vielen Fronten sein. Ich glaube, es ist eher wie beim „war on drugs“, dem Krieg gegen die Drogen: Man opfert dauerhaft Freiheitsrechte, ohne dass das Übel wirklich beseitigt werden kann.
Wie schwierig ist es für die Aclu, in der aktuellen Stimmung Kritik zu üben? Bekommen Sie nicht auch Druck von ihren fast 300.000 Mitgliedern, den Kampf gegen den Terror nicht zu stark zu behindern?
Nein, im Kampf gegen das Patriot-Gesetz und die Massenverhaftungen war und ist die Aclu absolut geschlossen. Wir haben außerdem eine ziemlich breite Koalition geschmiedet, die von der National Rifle Association bis zu linksradikalen Gruppen reicht. Unsere Kritik wird auch von vielen Intellektuellen und Medienleuten geteilt. Wir stehen also nicht auf aussichtslosem Posten.
Wie argumentieren Sie in der Öffentlichkeit?
Wir haben vor allem drei Ansätze: Erstens versuchen wir, auf konkrete Schicksale von Menschen aufmerksam zu machen, die zum Beispiel von den Massenverhaftungen betroffen waren oder sind. Das interessiert die Amerikaner eher als abstrakte Bedenken gegen Gesetzesnovellen. Außerdem versuchten wir, die Stimmen aus dem Sicherheitsapparat zu unterstützen, die die Maßnahmen des Patriot-Gesetzes für ineffizient halten. Und schließlich verweisen wir darauf, dass der Trend zur Überwachungsgesellschaft uramerikanische Werte bedroht, etwa das Recht, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden.
Sie streiten also mit Präsident Bush darüber, wer amerikanische Werte besser schützt?
Natürlich. Wenn er nach dem 11. September sagt, die amerikanischen Werte müssen verteidigt und erhalten werden, dann nehmen wir ihn beim Wort. Die Freiheitsrechte dürfen nicht nicht dem Krieg gegen den Terrorismus zum Opfer fallen.
INTERVIEW: CHRISTIAN RATH
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