: Der rot-rote Vertrag
Auf 117 Seiten haben SPD und PDS die Grundlagen der Berliner Landespolitik für die kommenden fünf Jahre festgeschrieben. Wie ein roter Faden zieht sich der Sparwille durch alle Kapitel. Den größten Batzen soll der öffentliche Dienst einbringen
Finanzen
„Die Lage ist weit dramatischer, als sie öffentlich wahrgenommen wird: Berlin ist ein Sanierungsfall“, heißt es im Koalitionsvertrag. In diesem Jahr fehlen rund 5,2 Milliarden Euro, etwa ein Viertel des Gesamthaushaltes. Pauschale Kürzungen reichten nicht mehr aus, beim Sparen müsse es jetzt ans Eingemachte gehen. Dabei wollen die Koalitionäre alle öffentlichen Dienstleitstungen und Investitionen auf den Prüfstand stellen. Erst wenn die Sparmaßnahmen verbindlich eingeleitet sind, will Rot-Rot über Zusatzhilfen mit dem Bund verhandeln. Bis 2009 wollen die Koalitonäre einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Größter Brocken ist der Personalbereich. Hier sollen knapp 1,1 Milliarden Euro gespart werden. Die Beschäftigten sollen „zeitlich begrenzt“ auf Lohn verzichten, Arbeit und Einkommen sollen umverteilt werden. Die Finanzkrise wird jeder Bürger zu spüren bekommen: Die Gebühren werden entsprechend der Kostenentwicklung angepasst.
Wirtschaft
In der Wirtschaftspolitik wollen die Koalitionäre ein „unternehmensfreundliches Klima“ schaffen, um mehr Unternehmen in die Stadt zu locken. Zentral sind mehrere Großprojekte: der Flughafen Berlin Brandenburg International, die Länderfusion mit Brandenburg im Jahre 2009, der Erhalt des Finanzplatzes Berlin trotz der Krise der Bankgesellschaft sowie die Ansiedelung des neuen Nordost-Energiekonzerns in der Hauptstadt. Die Investitionsbank Berlin (IBB) soll sich zu einer Landesstrukturbank entwickeln, die diversen Wirtschaftsfördergesellschaften sollen zu einer „One-Stop-Agency“ umorientiert werden. Rot-Rot hält an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen fest, will aber mehr auf Qualifizierung setzen. In einem Modellversuch sollen Sozialhilfeempfänger Genossenschaften gründen und sich selbständig machen können.
Wissenschaft
Die Unis sollen eigenständiger werden, Studiengebühren soll es nicht geben. Bei der zügigen Novellierung der Hochschulverträge will sich der neue Senat auf die Festsetzung von Rahmenbedingungen beschränken. Hochschulverträge sollen zur Planungsgrundlage aller Berliner Hochschulen werden. Gleichzeitig wird es aufgrund der Geldnot eine Verwaltungsreform, verbunden mit der Prüfung bisheriger Aufgaben, geben. In Aussicht gestellt wird die Schaffung übergreifender Verwaltungs- und Serviceeinrichtungen. Nicht nur die Unis, auch Studenten und Lehrer sollen fitter werden. Rot-Rot will kürzere Studienzeiten, mehr Frauen als Lehrende und eine reformierte Lehrerausbildung. Beschlossene Sache ist das Ende der medizinischen Fakultät an der FU. Das Steglitzer Uniklinikum soll daher bis 2005 zu einem reinen Versorgungskrankenhaus rückgebildet werden.
Schulpolitik
Hier hat sich SPD-Senator Klaus Böger in weiten Teilen durchgesetzt. Das neue Schulgesetz, über das seit langem diskutiert wird, soll im ersten Halbjahr 2002 eingebracht werden. Darin sind Reformen wie die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur, Neugestaltung der Lehrpläne, Leistungsdifferenzierung und mehr Selbstständigkeit für die einzelnen Schulen vorgesehen. Das erst 1995 gegründete und viel gescholtene Landesschulamt, das sich mehr durch Bürokratie als durch Effizienz ausgezeichnet hat, wird aufgelöst, die Außenstellen werden als Teil der Schulverwaltung gestärkt. Deutschkenntnisse nichtdeutscher Kinder werden gefördert. Dazu sollen Sprachtests für Kinder ab 4 Jahren im Kindergarten, zum Beginn der Vorklasse und in den Klassen 3 und 6 eingeführt werden. 1.040 der 2.150 Lehrerstellen, die bis 2006 durch den Rückgang von Schülerzahlen frei werden, sollen dafür eingesetzt werden. Damit sollen unter anderem 30 weitere Ganztagsgrundschulen eingerichtet, die anderen Grundschulen schrittweise zu so genannten verlässlichen Halbtagsgrundschulen mit einer Betreung von 7.30 bis 13.30 Uhr ausgebaut werden. Die Klassen in sozialen Brennpunkten sollen verkleinert werden. Neben den Fördermöglichkeiten von Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache soll auch der Integrationsunterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern gestärkt werden.
Kitas
Jedes Berliner Kind soll möglichst frühzeitig die Kita besuchen können. Schwerpunkt soll hier die Sprachförderung sein, besonders die Deutschkenntnisse nichtdeutscher Kids sollen verbessert werden. Deshalb sollen Angebote zweisprachiger Erziehung erhalten und verbessert, ErzieherInnen in diesem Bereich weitergebildet werden. Zudem will sich der Senat auf Bundesebene für eine Verbesserung der ErzieherInnen-Ausbildung einsetzen, die im europaweiten Vergleich recht dürftig ist. Zwei Drittel der Kitas sollen künftig von freien Trägern betrieben werden, ein Drittel soll bei den Bezirken verbleiben. Bislang war das Verhältnis umgekehrt. Außerdem wurde vereinbart, 850 Stellen in den Kitas zu streichen. So werden in den Horten künftig nicht mehr 16, sondern 21 Kinder von einer Erzieherin betreut.
Integration
Das ist Rot-Rot nur ein Kapitel mit gerade zwei Seiten wert. Darin schreiben sie im Wesentlichen Maßnahmen des rot-grünen Übergangssenats fort: So sollen Abschiebehaft vermieden und die Bedingungen im Abschiebegewahrsam verbessert werden. Bei Minderjährigen will der Senat von Abschiebehaft absehen. Allerdings galt für SPD-Innensenator Ehrhart Körting dies bislang nur für Jugendliche unter 16 Jahren. Einbürgerungen sollen erleichtert, Ausnahmen zur so genannten Residenzpflicht flexibel gehandhabt, Menschen ohne legalen Aufenthalt sollen „humanitäre Mindeststandards“ gewährt werden. Was das genau heißt, bleibt offen. Zudem will Rot-Rot Asylbewerber, so weit es geht, statt in Heimen in Wohnungen unterbringen. Das entspricht nicht nur den Wünschen der Flüchtlingen, sondern ist auch billiger.
Der neue Senat will die Stellung der Ausländerbeauftragten soll „zur Integrations- und Migrationsbeauftragten“ ausgebauen und ihre Rolle stärken. Wie das geschehen soll, wurde nicht festgeschrieben. Mit einer Ausnahme: Die Ausländerbeauftragte soll künftig auch Aussiedlerbeauftragte sein.
Inneres
Der Passus hat schon im Vorfeld für Zündstoff gesorgt: „Zur Förderung von Bürgernähe und Transparenz werden – wie in Großbritannien und den USA seit langem bewährt – Berliner Polizeibeamte eine individualisierbare Kennung gut sichtbar an ihrer Uniform tragen. Hierzu soll „eine möglichst einvernehmliche Regelung“ mit den Intressensvertretern „gefunden werden.“ Der Freiwillige Polizeidienst und die Reiterstaffel werden aufgelöst. Auch das Polizeiorchester bekommt keine Etatmittel mehr. Es sei „zu prüfen“ ob ein Erhalt „ohne Inanspruchnahme von Haushaltsmitteln möglich ist“. Die Führungsgliederung der Polizei „wird gestrafft“, die Eigenverantwortung der Direktionen und Abschnitte „gestärkt“. „Bemühen“ wird sich die Polizei um männliche und weibliche Bewerber nichtdeutscher Herkunft. Frauen sollen „insbesondere in Hinblick auf die Übernahme von Führungspositionen gezielt gefördert werden“. „Aufgeholt werden müssen“ die erheblichen Ausstattungsdefizite im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik. Die Polizeibefugnisse zur längerfristigen Observation, zum Einsatz von V-Personen und verdeckten Ermittlern „werden entsprechend dem Vorbild anderer Bundesländer an einen Straftatenkatalog gebunden und nicht mehr auf eine Generalklausel gestützt“. Eine Videoüberwachung öffentlicher Plätze „wird nicht ins Auge gefasst“. Auch eine Änderung des Demonstrationrechtes sei „nicht erforderlich“. Den folgenden Satz sollten sich die Uniformierten hinter die Ohren schreiben: Die Polizeiarbeit in besonderen Einsatzlagen „ist geprägt von Vorausschau, Einfühlungsvermögen und Kooperationswille“. Leitlinie seien „Strategien deeskalierender Art“.
Rechtspolitik
Die technische Ausstattung der maroden Gerichte sei durch ein Investitionsprogramm von 39 Millionen Euro zu verbessern. Durch den Einsatz von Serviceteams und Gerichtsmanagern sollen die Geschäftsprozesse optimiert werden. Die Überbelegung der Haftsanstalten soll durch verstärkte Maßnahmen der Haftvermeidung abgebaut werden. Angestrebt wird eine Erhöhung des Anteils von Entlassungen zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe. Der geplante Knastneubau ist erstmal vom Tisch: Die Justizvollzugsanstalt im brandenburgischen Großbeeren „wird in dieser Wahlperiode nicht gebaut“.
Drogenpolitik
Im Passus zur Suchtpräventionen ergehen sich die Verfasser in Andeutungen. Die Einrichtung von mobilen Drogenkosumräumen sowie die ärztliche Verschreibung von Heroin und die Zulassung von cannabishaltigen Arzeimitteln wird von der Beurteilung entsprechenden Untersuchungen auf Bundes- und Landesebene abhängig gemacht. „Drogenkonsumräume wird es geben, wenn es die Bezirke wollen“, heißt es aus PDS- Kreisen.
Gesundheit
SPD und PDS betonen Gesundheitsförderung und Prävention. Gemeinsam mit Krankenkassen und anderen Akteuren im Gesundheitswesen soll ein Bündnis geschlossen werden, das insbesondere die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen sowie sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen zum Ziel hat. Berlin soll dem Netzwerk Gesunde Stadt der Weltgesundheitsorganisation beitreten. Ende des Jahres soll ein neuer Krankenhausplan vorliegen, die im Lanesunternehmen Vivantes zusammengeschlossenen ehemals städtischen Kliniken sollen zu hundert Prozent beim Land Berlin bleiben.
Stadtentwicklung
Wie soll man in Zeiten leerer Kassen die Entwicklung der Stadt gestalten? Wahrlich keine leichte Aufgabe, war Stadtentwicklung in den vergangenen zehn Jahren ja untrennbar mit milliardenschwerer öffentlicher Förderung vor allem in der Sanierungspolitiuk verbunden. Damit soll nun Schluss sein. Mehr Private in die Verantwortung nehmen, heißt die Devise. Um die Mieter vor allzuhohen Mieten und vor Verdrängung zu schützen, sollen verstärkt Mietobergrenzen erlassen werden. Privat vor öffentlich bestimmt auch die Baupolitik. Wogegen sich die PDS als Oppositionspartei, aber auch die SPD als Koaltionspartner mit der CDU lange Zeit gewehrt haben, ist in der rot-roten Regierungsveranwortlichkeit plötzlich kein Tabu mehr: „Aus Gründen der Vermögensaktivierung“, heißt es in der Koalitionsvereinbarung, „ist die Veräußerung einer Wohnungsbaugesellschaft oder von Wohnungsbeständen umumgänglich.“ Wie viele Wohnungen davon betroffen sind, steht allerdings nicht im 117-Seiten-Werk.
Verkehr
Rot-Rot hält am Ziel des so genannten modal split in der Innenstadt fest. Demnach sollen 80 Prozent der Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln und nur 20 Prozent mit dem Auto zurückgelegt werden. Im Verkehrsnetz hat Instandhaltung Priorität vor Neubau. Die Gespräche der BVG mit der S-Bahn über eine Fusion sollen ergebnisoffen geführt werden.
Europapolitik
Ist mit rot-rot die PDS im Westen angekommen, oder Berlin, entsprechend seiner geografischen Lage, endlich im Osten? Letzteres wird in den Koalitionsvereinbarungen nun immerhin als eigenständiges Kapitel behandelt. Hieß es in den Vereinbarungen für die Ampel noch lapidar „Die Osterweiterung der Europäischen Union muss zur Kenntnis genommen werden“, heißt es bei SPD und PDS nun: „Der EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten bildet eine der wichtigsten Entwicklungsperspektiven für Berlin“. Hier hat sich der Senat viele vorgenommen: bessere Koordination seiner Aktivitäten und Neudefinition der Rolle des Osteuropabeauftragten.
Wahlrecht
Die demokratischen Mitwirkungsrechte der BürgerInnen sollen verbessert werden. Formale Hürden wie Quoren und Fristen für Volksinitiativen, -begehren und -entscheide werden gesenkt. Zudem sollen Bürgerentscheide auf der Basis von Bürgerbegehren ermöglicht werden. Dabei denken die Roten auch an die Jüngeren. Schon 16-Jährige sollen zukünftig die Bezirksverordneten mitwählen.
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