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Variationen des Wartens

Mit vierzig Jahren Verspätung erscheint nun das wichtigste Buch des DDR-Fotografen Arno Fischer: „Situation Berlin“ zeigt den allgemein geteilten Nachkriegsalltag der Frontstadt vor dem Mauerbau

Fischer erweist sich den Meistern der Agentur Magnum als ebenbürtig

von WOLFGANG KIL

Im September 1961 hatte ein Verlagshaus auf der Leipziger Herbstmesse seinen Stand komplett mit Fotografien dekoriert, die für den erhofften Bestseller der Saison warben: einen Bildband namens „Situation Berlin“. Der Fotograf Arno Fischer hatte auf endlosen Streifzügen seine Eindrücke auf beiden Seiten der geteilten Stadt mit der Kamera festgehalten. Mit Unterstützung der Autoren Günther Rücker und Heinrich Goeres war daraus ein Buchprojekt gereift. Doch alle Anstrengung war umsonst. Drei Wochen vor dem Erscheinungstermin wurde quer durch Berlin eine Mauer gebaut. Die offizielle Abnahmekommission stolperte bei ihrem Messerundgang über die Werbeidee des Leipziger Verlages. „Genossen, es gibt keine Situation Berlin mehr!“ Mit dieser Ermahnung besiegelte der visitierende Außenhandelsminister das Schicksal des Buches. Es erschien nie.

Arno Fischer – Jahrgang 1927, abgebrochenes Bildhauerstudium in Charlottenburg, 1953 Übersiedlung nach Ostberlin, in der Kameraarbeit Autodidakt – wurde der bekannteste und als Lehrer einflussreichste Fotograf der DDR. Seit den Siebzigerjahren zeigte er auf Ausstellungen immer wieder auch Fotos aus jenem nie erschienenen Buch. Spätestens seit ihrer furiosen Präsentation auf dem Festival in Arles 1986 war klar, dass es sich bei diesen Bildern um Werke von europäischem Rang handelte: inspiriert vom nachkriegskulturellen Zeitgeist des Human Interest, den Meistern der Agentur Magnum durchaus ebenbürtig. Dass Robert Frank sein verehrtes Vorbild und er selbst mit René Burri persönlich gut bekannt war, erzählte Fischer jederzeit gern. Dass er deren vielleicht bedeutendsten Leistungen – Franks 1958 in Paris erschienenen „Les Americains“ und Burris 1962 in Zürich verlegten Bildband „Die Deutschen“ – mit einem eigenen Buchprojekt nachgeeifert hatte, war dagegen nur in Andeutungen zu erfahren. Die Niederlage steckte wohl zu tief: die bittere Ahnung, dass hier ein gleichrangiges, drittes Highlight auf der Strecke geblieben war.

Die Bilder des Buches überliefern eine wenig fröhliche, eher verbiesterte Population zwischen Ruinen. Verhärmte und feiste Gesichter: die sich mühsam Aufrappelnden und die Schon-wieder-Gewinner. Erstaunlich viele nachdenkliche Blicke, was daran liegen mag, dass Leute immer wieder beim Warten porträtiert wurden, beim Warten auf den Vorbeimarsch der Demonstration oder den Hauptredner der Landsmannschaft, auf die Friedensfahrer oder einfach auf das Vergehen der Zeit.

Es sind diese vielen Variationen des Wartens, die im Nachhinein den Eindruck eines wesentlich geruhsameren Treibens erzeugen, eben den grauen Alltag einer Stadt, die in der historischen Arena auf die Strafbank geschickt worden war. Angesichts von Fischers Bildern könnte man meinen, dass sie dort tatsächlich versuchte, zur Besinnung zu kommen. Irgendwie stillgestellt. War das die „Situation Berlin“?

Alle Versuche, das allmählich von Legenden umrankte Buch wenigstens noch im liberaleren letzten Jahrzehnt der DDR zu produzieren, scheiterten am mangelnden Interesse der Verlage.

Aber auch die vormals Beteiligten übten Zurückhaltung. Ein Blick auf die wenigen Überbleibsel des Projekts – ein paar Doppelseiten Klebelayout mit einmontierten Texten – mag erklären, warum: Der Bildband war im Verlaufe seiner Produktion zum ziemlich kruden Propagandawerk umgemodelt worden, mit Textbeigaben quer durch die Frontlagen jener in Wirklichkeit wenig stillen Jahre, von Heine, Tucholsky, Brecht, Becher, Einstein bis Ulbricht, Grotewohl, Stalin, Chruschtschow, Otto Dibelius und William S. Schlamm. Gegen solchen verbalen Geschützdonner hätten selbst die starken Fotos eines Arno Fischer es nicht leicht gehabt. Oder eben doch? Vielleicht gerade?

Wir werden es nicht mehr erfahren. Das unlängst im Berliner Nicolai Verlag erschienene Fotobuch „Situation Berlin“ hat mit jenem vermutlich heiklen Produkt der Jahre 1960/61 nur noch den Titel gemein. Alles andere entspricht unverkennbar heutiger Perspektive: die Bildauswahl, die historische Einführung, das Layout. Von den einst die Bilder ideologisch flankierenden Texten bekommen wir keinen zu Gesicht. Ulrich Domröse, Fotokurator der Berlinischen Galerie, präsentiert Arno Fischer als das Missing Link der Berliner Fotogeschichte zwischen Friedrich Seidenstücker und Will McBride, mit Bildern, die bezeugen, dass weder die weltumspannende Bildkultur der Ausstellung „Family of Man“ noch der Existenzialismus oder der lakonische Nouveau Realisme von Sektorengrenzen aufzuhalten waren: Bis zum Mauerbau fanden die Roaring Fifties ganz selbstverständlich auch in Ostberlin statt, nicht nur mit Jazz und Rock ’n’ Roll, sondern eben auch mit bildstarker Straight Photography.

Fischers wunderbare Bilder öffnen psychologischen Deuteleien Tür und Tor, darin liegt ja ihre Kraft. Aber mit dem völligen Verzicht auf die einstigen Texte rutscht die Bildauswahl ins Versöhnliche, vom Klima der Frontstadt bleiben Physiognomien und atmosphärische Befindlichkeit.

Das Originalprojekt war da von ganz anderem Kaliber. Es hätte als Zeitdokument viel erhellt, aber leider will heute keiner mehr beim Kalten Krieg dabei gewesen sein. Natürlich gilt Freude dem endlichen Erscheinen der Fotos. Doch konsequenterweise hätte zum Buch jetzt ein anderer Titel gehört.

Arno Fischer: „Situation Berlin. Fotografien 1953 – 1960“. Hrsg. von Ulrich Domröse. Berlinische Galerie und Nicolai Verlag, Berlin 2001, 129 S., 29,90 €

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