: Argentina infernal
Dreißigtausend „Verschwundene“, systematische Folterungen, Vertreibungen: Die bislang letzte argentinische Militärdiktatur (1976–1983) war die blutigste in Lateinamerika
von BERND PICKERT
Der Putsch selbst war unblutig. Als die argentinischen Militärs unter Führung ihres damaligen Oberbefehlshabers General Jorge Videla am 24. März 1976 die Macht übernahmen, hatten sie kaum nennenswerten Widerstand aus dem Weg räumen oder gar den Präsidentenpalast bombardieren müssen, wie Chiles Putschisten um Augusto Pinochet zweieinhalb Jahre zuvor. Tatsächlich hatte Präsidentin Isabel Perón längst jeden Rückhalt in der Bevölkerung verloren.
1974 hatte sie nach dem Tod ihres Ehemannes, des legendären Juan Domingo Perón, das höchste Staatsamt übernommen. Perón war nach seiner Rückkehr aus dem spanischen Exil Ende 1973 mit rund sechzig Prozent der Stimmen ins Amt gewählt worden. Aber die in den Vierzigerjahren von ihm ins Leben gerufene „peronistische“ Bewegung war schon zu diesem Zeitpunkt scharf in rechte und linke Flügel zersplittert, die sich gegenseitig erbittert – und gewaltsam – bekämpften.
Der inzwischen greise Perón, der noch aus dem Exil die linksperonistischen Organisationen, insbesondere die „Montoneros“ und die Peronistische Jugend, in ihrem Kampf gegen die bis 1973 währende Militärherrschaft des Generals Alejandro Lanusse unterstützt hatte, vollzog nach seiner Rückkehr einen harten Schwenk nach rechts und ließ die militanten linksperonistischen Gewerkschaften verfolgen. Sein Sozialminister López Rega gründete die Alianza Anticomunista Argentina, abgekürzt AAA, gesprochen „Triple A“ – eine Todesschwadron, die Terror gegen alle ausübte, die der „Subversion“ beschuldigt wurden. Auf der Gegenseite verschärfte die trotzkistische ERP-Guerilla mit Attentaten und Entführungen ihre militärischen Aktivitäten, genau wie die in den Untergrund gedrängten Montoneros.
Politisches Vakuum, gepaart mit Terror von beiden Seiten, ständige Streiks der Gewerkschaften trotz immer stärkerer Repression und eine sich verschärfende Wirtschaftskrise bereiteten schließlich den Boden für die Machtübernahme durch die Militärs – mit dem gleichen Selbstverständnis als „Retter der Nation“, das bereits alle vorherigen Militärregierungen für sich in Anspruch genommen hatten, die seit 1930 immer wieder die Regierungsgewalt in Argentinien übernommen hatten. In ihrer ersten Amtshandlung erklärte die Junta alle politischen Funktionsträger und die obersten Richter für abgesetzt, das Parlament für aufgelöst und verbot alle politischen Parteien und Gewerkschaften. Die blutigste Diktatur, die Lateinamerika je hervorgebracht hat, hatte begonnen.
Die Militärs agierten gemäß der unter Federführung der USA ausgearbeiteten „Doktrin der nationalen Sicherheit“. Diese Maxime galt im Prinzip für alle lateinamerikanischen Militärs und ihre grausamen Diktaturen. Sie ging davon aus, dass der Ost-West-Konflikt zwischen Kommunismus und Kapitalismus seine Entsprechung auch innerhalb der jeweiligen nationalen Grenzen fand – der Kampf gegen alles, was sie als kommunistische Subversion begriffen, gehörte also zur ureigensten Aufgabe der Militärs im Sinne der jeweiligen Nation. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die damalige Sowjetunion sich in den folgenden Jahren zum Haupthandelspartner Argentiniens entwickelte, während die US-Regierung unter dem 1977 ins Amt gekommenen Präsidenten Jimmy Carter vorsichtig die Wahrung der Menschenrechte forderte. Die europäischen Regierungen nahmen die zahlreichen Berichte über Folter und Mord in Argentinien kaum zur Kenntnis. Deutschland lieferte Rüstungsgüter, und das Mercedes-Benz-Werk in Argentinien bediente sich der Militärs, um unliebsame Gewerkschafter loszuwerden.
Als 1978 die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien stattfand (und mit dem Titelgewinn des Gastgebers endete), mobilisierten Menschenrechtsorganisationen und Solidaritätsbewegungen weltweit zu Protesten unter dem Motto „Fußball ja, Folter nein!“ – ohne großen Erfolg. Der damalige Bundestrainer Helmut Schön sagte dem Stern, er habe in Argentinien „nichts gesehen, von dem man sagen könnte, es handele sich um eine ausgesprochene Diktatur“.
Die Daten sprachen eine andere Sprache. 340 größtenteils geheime Haftlager im ganzen Land hatten die Militärs im Rahmen ihres „Prozesses der nationalen Reorganisation“ errichtet. Sie folterten massenhaft, systematisch und mit bestialischen Methoden. Schon 1980 berichtete amnesty international auch von der Methode des „Verschwindenlassens“, bei der Häftlinge, durch Beruhigungsspritzen betäubt, lebendig aus Flugzeugen ins Meer geworfen wurden – eine Praxis, die von Seiten des Militärs erst 1995 durch den Fregattenkapitän Adolfo Scilingo bestätigt wurde.
Rund dreißigtausend Menschen „verschwanden“, etliche mehr wurden gefoltert, aus dem Land vertrieben, ins Exil gezwungen. Kleine Kinder, in der Haft geboren oder mit ihren Müttern verschleppt, wurden an kinderlose Offiziersfamilien vergeben. Hatten anfangs auch bürgerliche Kreise die Machtübernahme der Militärs zur „Wiederherstellung der Ordnung“ gutgeheißen, so waren viele entsetzt über die Ausmaße des Blutbades, das Militär und Polizei anrichteten. Aber nur wenige, wie die „Mütter von der Plaza de Mayo“, die seit April 1977 öffentlich Aufklärung über den Verbleib ihrer verschwundenen Söhne und Töchter fordern, leisteten offenen Widerstand.
Den politischen Todesstoß gaben sich die Militärs selbst, als sie 1982 die zu Großbritannien gehörenden Falklandinseln (von Argentinien als „Malvinas“ ebenfalls beansprucht) militärisch besetzten – durchaus unter Zustimmung großer Teile der Bevölkerung, denn dass die Malwinen zu Argentinien gehören, gilt bis heute als Allgemeingut. Den anschließenden Krieg gegen Großbritannien allerdings verlor die Armee schmählich – und damit auch jegliche Legitimation. Eine Armee, die zwar die eigene Bevölkerung terrorisieren kann, aber gegen externe Feinde versagt, hatte ausgespielt. Die Militärs mussten sich von der Regierung zurückziehen.
1983 ging Raúl Alfonsín von der Radikalen Bürgerunion (UCR) aus ersten freien Wahlen als neuer Präsident hervor. Mit seinem Amtsantritt am 10. Dezember 1983 begann die Aufarbeitung der Diktatur. Am 14. Dezember kündigte Alfonsín an, neun Mitglieder der verschiedenen Militärregierungen für die begangenen Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich zu verfolgen. Einen Tag später gründete sich auf Regierungsinitiative die „Nationale Kommission über das Verschwinden von Personen“ (Conadep) unter Leitung des Schriftstellers Ernesto Sabato – eine der ersten Wahrheitskommissionen Lateinamerikas. Menschenrechtsorganisationen kritisierten, eine parlamentarische Untersuchung wäre besser gewesen als die Honorationenkommission – konnten sich aber nicht durchsetzen. Die Mütter der Plaza de Mayo lehnten die Zusammenarbeit mit der Conadep ab.
Die Conadep untersuchte tausende von Fällen, erstellte Lagepläne der Folterlager, hörte sich zigtausende von Berichten Gefolterter oder Angehöriger von Verschwundenen an. Am 20. September 1984 übergab sie dem Präsidenten ihren Bericht. Im Vorwort stellt die Kommission fest, dass es sich bei Folter und Mord keinesfalls, wie es das Militär glauben machen wollte, um Exzesse Einzelner handelte – sondern ganz offensichtlich um eine systematische Methodik, die von den obersten Verantwortlichen ausgearbeitet und konsequent angewandt wurde. Der Bericht, inzwischen in über 25 Auflagen gedruckt, gilt bis heute als Pflichtlektüre und erschütterndes Dokument der argentinischen jüngsten Geschichte – unmittelbare strafrechtliche Konsequenzen für die Folterknechte der Diktatur hatte er nicht, obwohl die Kommission 1.351 Personen namentlich nannte, die an der Repression mitgewirkt hatten.
Die Prozesse gegen Mitglieder der drei Militärjunten und zwei ehemalige Montonero-Führer begannen im April 1985, im Dezember wurden die Militärs zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Reue zeigten sie nicht – im Gegenteil stellten sie das Vorgefallene als legitimen Kampf gegen die Subversion dar. Die Angeklagten, wie auch die Streitkräfte insgesamt, forderten empört Respekt vor ihrer Leistung und Institution. Zunächst zogen die Verurteilungen Folgeprozesse nach sich: Über vierhundert weitere Offiziere wurden wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt – das Militär zeigte sich immer hörbarer verärgert. Nicht ohne Folgen: Im Dezember 1986 beschloss die Regierung das so genannte Schlusspunktgesetz (ley de Punto Final), das weitere Anklagen ausschloss. Im April des folgenden Jahres kam es zur ersten von insgesamt vier Erhebungen von Militärs gegen die laufenden Gerichtsverfahren – es folgte im Juni das Befehlsnotstandsgesetz (ley de Obediencia Debida), das (außer für Juntamitglieder) einer Amnestie gleichkam.
Damit schien die juristische und politische Aufarbeitung der Diktatur nur vier Jahre nach deren Ende bereits vorüber. Die Angst vor einer neuen Machtübernahme der Militärs trieb die Politiker aller Parteien um – man paktierte lieber und verzichtete auf die Bewältigung der Vergangenheit, als neue Konflikte mit der intakt gebliebenen Institution zu riskieren. Der peronistische Präsident Carlos Menem, der 1989, wiederum im Zeichen einer schweren Wirtschaftskrise, die durch Hyperinflation unerträglich geworden war, die Regierungsgeschäfte übernahm, begnadigte nach einer erneuten Militärrebellion 1990 zuerst die Beteiligten der Militärrevolten – und schließlich auch die verurteilten Juntamitglieder. Damit waren alle Verantwortlichen der Diktatur, nur sieben Jahre nach ihrem Ende, wieder auf freiem Fuß.
Wenngleich die argentinischen Menschenrechtsorganisationen, allen voran die Mütter der Plaza de Mayo, massiv gegen die Regierung protestierten und weiterhin mit wöchentlichen Demonstrationen auf das Schicksal der Verschwundenen und auf die Straffreiheit für die Täter aufmerksam machten, gingen weitere Impulse zur juristischen Bewältigung der Vergangenheit erst vom Ausland aus. Bereits im Oktober 1989 war der Marinekapitän Alfredo Astiz, in Argentinien bekannt als „blonder Todesengel“, in Paris wegen der Ermordung zweier französischer Nonnen in Abwesenheit verurteilt worden – er wird seither mit internationalem Haftbefehl gesucht und kann Argentinien nicht verlassen. Im März 1996, zwanzig Jahre nach dem Putsch, erhob eine Gruppe von Anwälten in Spanien Anklage gegen die argentinischen Militärs wegen Völkermords – eines Verbrechens also, das nach internationalem Recht überall zu verfolgen ist, unabhängig von der Nationalität der Täter oder Opfer. Die Anwälte argumentierten, dass die vom Militär zu „Subversiven“ erklärten Menschen keine Chance gehabt hätten, durch ihr Verhalten diesen Status zu ändern, und insofern von der Verfolgung einer durch die Täter definierten Bevölkerungsgruppe auszugehen sei, was juristisch dem Tatbestand des Völkermords gleichkomme.
Die Verhaftung des chilenischen Putschgenerals Pinochet in London im Dezember 1998, die Ad-hoc-Tribunale der UNO zu Jugoslawien und Ruanda und die Verabschiedung des Rom-Statuts zur Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs ermunterten Anwälte und Opfer, auch in anderen Ländern Verfahren anzustrengen und Haftbefehle zu erwirken – nicht zuletzt in Deutschland, wo sich 1998 eine „Koalition gegen Straflosigkeit“ gründete, die seither über ein Dutzend Fälle deutscher und deutschstämmiger Verschwundener beim Landgericht Nürnberg-Fürth anhängig gemacht und im März 2001 eine Anklage wegen Völkermordes gegen die argentinischen Militärs erhoben hat.
Nun geriet auch in Argentinien wieder Bewegung in die Justiz: 1998 wurden mehrere der bereits amnestierten Juntamitglieder unter Hausarrest gestellt, nachdem sie wegen der Entführung von Kindern – die von den Amnestiegesetzen ausgenommen war – angeklagt worden waren. 1995 hatte General Balza, Oberbefehlshaber des Heeres, erstmals in einer Erklärung Menschenrechtsverletzungen der Militärs eingestanden und betont, diese seien auch in der damaligen Situation nicht zu rechtfertigen gewesen. Und in den vergangenen zwei Jahren urteilten argentinische Bundesrichter in mehreren Fällen, das Schlusspunkt- und das Befehlsnotstandsgesetz seien null und nichtig.
Die aktuelle wirtschaftliche und politische Krise Argentiniens dürfte den Prozess der Vergangenheitsbewältigung erschweren. Gerade in der prekären Situation politischer Instabilität wird der seit Jahresbeginn amtierende Präsident Eduardo Duhalde wenig Interesse daran haben, in einen neuen Konflikt mit den Militärs einzutreten.
BERND PICKERT, 36, ist Redakteur im Auslandsressort der taz mit den Schwerpunkten Lateinamerika und USA
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