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Bitte, bitte, bloß keine Hauptstadt!

Berlin gefällt den Deutschen eben als eine verarmte, etwas zu groß geratene Stadt kurz vor der polnischen Grenze

Jetzt sind sie alle enttäuscht. „Schaut bitte nicht auf diese Stadt“, fleht der Tagesspiegel. „Schlimmer hätte es nicht kommen können“, klagt die taz. „Fehlstart, in der Tat“, gesteht SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit.

Dabei ist doch gar nichts passiert. Ein paar Heckenschützen, vermutlich aus der SPD-Fraktion, haben die eigenen Senatoren demontiert. Nur mit großer Mühe gelang es Wowereit und seinem Koalitionspartner Gregor Gysi, halbwegs ministrables Personal nach Berlin zu locken. Das Haushaltsloch wird unterdessen täglich größer.

Na und? So war es immer in Berlin, so wird es auch in Zukunft sein. „Berlin bleibt doch Berlin“: Mit diesem Slogan warb die SPD im vorletzten Wahlkampf. Nun hat sie den Beweis angetreten. Große Koalition, Ampel oder Rot-Rot – alle denkbaren Optionen wurden verhandelt, und das Ergebnis war in allen Fällen gleich desaströs. Die Berliner Lokalpolitiker haben endlich Klarheit geschaffen: Mit der Hauptstadt, das wird nichts mehr.

Das Erstaunlichste daran: Außer ein paar Kommentatoren stört das niemanden. Die Berliner nicht – sie hatten sich ohnehin der Zumutung verweigert, plötzlich eine Metropole darstellen zu müssen. Und die übrigen Deutschen sowieso nicht – sie hatten noch nie das Gefühl, so etwas wie eine Hauptstadt überhaupt zu brauchen.

Zugegeben, die schicke Reichstagskuppel und das verhüllte Brandenburger Tor, den glitzernden Potsdamer Platz und die angeblich so schrille Oranienburger Straße – das schaut man sich gerne einmal an, auch wenn man aus Wanne-Eickel kommt oder aus Bietigheim-Bissingen. Aber das reicht dann eben auch. Nach einem kurzen Boom sind die Touristenzahlen schon wieder im Sinken begriffen. Jeder, der das modische Phänomen „Hauptstadt“ einmal inspizieren wollte, hat es inzwischen getan.

Und die so genannten „Hauptstädter“ selbst? Sie haben sich längst im Fatalismus eingerichtet. Der Bankskandal im vergangenen Jahr hat sie nicht aufgerüttelt, sondern im Weiterwursteln bestärkt. Wenn mal eben sechs Milliarden Mark verschwinden, dann hat alles Sparen seinen Sinn verloren: So argumentieren jetzt all jene, die sich für eine geordnete Haushaltsführung noch nie begeistern konnten.

Doch das ist so ungewöhnlich nicht. Die „parasitäre“ Hauptstadt, die auf Kosten anderer lebt; die unregierbare Metropole, deren Probleme nicht zu bewältigen sind: Das sind die gängigen Stereotypen überall auf der Welt, und in den meisten Fällen stimmen sie auch. Das allgegenwärtige Chaos in Rom, die Korruption im Pariser Rathaus, das lange Zeit als unregierbar geltende New York – man fragt sich, woher die Berlin-Kritiker eigentlich ihr Idealbild einer metropolentauglichen Lokalpolitik beziehen.

Natürlich gibt es Stadtregierungen, die Herausragendes leisten. Das bedeutet: Die Müllabfuhr funktioniert, die U-Bahn ist pünktlich, die Polizei macht einen guten Job. Das sind die Aufgaben des Bürgermeisters und der Dezernenten, die in Berlin hochtrabend Senatoren heißen. Das Thema „Hauptstadt“ zählt nicht zu ihren Kompetenzen. Was immer andere Städte zu Metropolen macht – mit der Lokalpolitik hat es nichts zu tun.

Nicht Gysi oder Wowereit sind das Problem, und Diepgen oder Landowsky waren es auch nicht. Wer auch immer in Berlin regiert – es bleibt eine verarmte, etwas zu groß geratene Stadt kurz vor der polnischen Grenze. In keiner anderen deutschen Stadt, nicht einmal in Leipzig oder Dresden, ist das Durchschnittseinkommen so niedrig. Keines der westdeutschen Wirtschaftszentren ist, gemessen am Ausländeranteil, so wenig international.

Nicht einmal in der Bundespolitik ist die Rolle Berlins als Machtzentrum unangefochten. Angela Merkel hat den Kampf um die Kanzlerkandidatur auch deshalb verloren, weil sie ihre politischen Erfahrungen „nur“ in Bonn und Berlin gesammelt hat – und nicht in einer Landeshauptstadt.

Seit dem glücklosen Rainer Barzel 1972 haben die beiden Volksparteien nur noch Kanzlerkandidaten nominiert, die über Erfahrungen als Ministerpräsident verfügten. „Das politische System jenseits des Rheins“, schrie die französische Zeitung Le Monde mit der nötigen Distanz, finde sich eben „nur schlecht mit einer Hauptstadt ab“. So war es immer, und so wird es bleiben. RALPH BOLLMANN

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