piwik no script img

Ein verhängnisvoller Krautwickel

Ein Pflegehelfer steht wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Eine 87-Jährige Patientin war an einem Bissen Kohlroulade erstickt. Der Vorfall beendete die Karriere des jungen Mannes in der Altenpflege nach kurzer Zeit

„Einmal habe ich weggeguckt, und schon ist meine Mutter tot“, sagt die Tochter

Die Dinge, die ein Menschenleben verändern, sind oft klein, und vorher erschließt sich ihre Bedeutung selten. Auch Mariusz G. hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Stückchen Krautwickel sein Dasein in eine unglückliche Richtung kehren könnte. Dennoch ist es im Mai vergangenen Jahres so gekommen. Und seither scheint es unwahrscheinlich, dass der 28-jährige Mariusz G. jemals wieder unbeschwert in einen Krautwickel beißen wird.

Nichts schien auf diese Entwicklung hinzudeuten. Als Junge in Polen kochte Mariusz G. gerne ausgewählte Speisen, auch das ein oder andere Krautgericht wird unter dem zubereiteten Essen gewesen sein; die ersehnte Karriere in der Gastronomie blieb ihm jedoch versperrt, die Plätze an der zuständigen Hochschule waren rar: Mariusz G. lernte den Beruf des Schiffsmonteurs. Ansonsten verlief sein Leben ohne besondere Höhen und Tiefen, mit Krautwickeln oder ähnlichen Speisen kam er nicht in Konflikt.

Im Jahr 1995 zog Mariusz G. wegen der Liebe nach Deutschland. Das junge Paar heiratete in Berlin, für ein paar Monate fand Mariusz G. Arbeit bei der Getränkekette Lehmann. Die Geschichte mit dem verhängnisvollen Krautwickel ereignete sich in einer anderen Branche, rund fünf Jahre später.

Mariusz G. hatte sich inzwischen für den Beruf des Pflegediensthelfers entschieden, die Betreuung pflegebedürftiger Menschen schien ihm eine erfüllende Tätigkeit. Doch schon an seinem zweiten Arbeitstag in einer Seniorenwohnanlage in Lichtenrade geschah jenes Verhängnisvolle, von dem Mariuzs G. heute im Gerichtsaal immer wieder behauptet, dass er es weder gewollt noch zu verantworten hätte; wegen dem ihm nun schon zum zweiten Mal der Prozess gemacht wird.

Schuld ist ein ungefähr 2,5 x 3,5 Zentimeter großes Stück Krautwickel. Am 20. Mai vergangenen Jahres sollte Mariusz G. als Pflegehelfer der 87-jährigen Rentnerin Ella J. das Mittagessen servieren. Kohlrouladen und Kartoffelbrei standen im Kühlschrank bereit. Die bettlägerige Ella J. konnte nicht mehr ohne fremde Hilfe essen. Als Mariusz G. sie an diesem Tag fütterte, legte sich jedoch ein Stück aufgewärmter Krautwickel über den Kehlkopfdeckel der Frau. Wenige Minuten später war die Rentnerin erstickt. Die Frau in dem Pflegeheim hatte unter krankhaften Schluckbeschwerden gelitten, der Krautwickelbissen war einfach zu groß.

Wegen fahrlässiger Tötung von Ella J. ist Mariusz G. im September vergangenen Jahres vom Amtsgericht Tiergarten zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten verurteilt worden. Gegen dieses vermeintliche Unrecht hat er Berufung eingelegt. Mit hängendem Kopf sitzt der kräftige Mann nun wieder auf der Anklagebank. Die laufende Verhandlung am Landgericht wirft nicht nur Diskussionen über die richtige Größe und Konsistenz von mundgerechten Krautwickelstücken auf. Sie bringt auch die zweifelhaften Zustände der ambulanten Pflege ans Licht, zeigt, unter welchen Bedingungen sich die Versorgung hilfsbedürftiger Menschen, vor allem im Alter, vollzieht.

Mariusz G. hatte keine Erfahrung in der Hauskrankenpflege. An besagtem Tag kam er als ungelernte Aushilfe in die Wohnung von Ella J. Es war sein erster Einsatz, den er allein bei einer alten Frau absolvierte. Am Morgen hatte er Ella J. gemeinsam mit einer anderen Pflegerin versorgt, man habe ihm „schnell, schnell erklärt, wie alles geht“, meint Mariusz G.

Bereits am Mittag sollte er es ohne Hilfe der Kollegin schaffen. „Keiner hat mir das mit den Schluckbeschwerden so richtig gesagt.“ Er hätte wissen müssen, dass der Krautwickelhappen für eine alte Frau viel zu groß war, hält der Staatsanwalt jedoch dagegen.

Als Frau J. zu husten begann, klopfte ihr Mariusz G. auf den Rücken, drückte ihre Brust, steckte ihr den Finger in den Mund: Der Kohlrouladenbissen verschob sich nicht. Mariusz G. rief beim Pflegedienst an. Die Frau an der Rufbereitschaft wusste auch nichts von der Schluckproblematik der Rentnerin. Immer wieder wurde hin und her telefoniert. Als die Feuerwehr endlich eintraf, war es zu spät.

Für die Prozessbeteiligten ist es nun schwer, mit den Folgen der Krautwickelmahlzeit zu leben. „Einmal habe ich weggeguckt und schon ist meine Mutter tot“, sagt die 54-jährige Tochter Herminia T. nun im Prozess. Dabei hätte sie jedem Pfleger eingeschärft, nur kleine Häppchen zu füttern. Sie hat gegen die Chefin der Pflegefirma Anzeige erstattet, ein Ermittlungsverfahren läuft.

Für Mariusz G. hat die Kohlroulade eine Berufsperspektive zerstört. Nach dem Tod von Frau J. ist er aus dem Pflegedienst entlassen worden. Wenn er jetzt von seiner Arbeitslosigkeit erzählt, wedeln seine großen Hände hilflos im Leeren. Die Verhandlung gegen Mariusz G. wird am Freitag fortgesetzt. Sein Anwalt wird wieder eine Dose Krautwickel als Anschauungsmaterial mitbringen. KIRSTEN KÜPPERS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen