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„Ich bin auch noch da“

aus Tübingen PETER UNFRIED

Hören Sie jetzt genau zu, sagt der Gastdozent. Nochmal mit Betonung: Hören Sie genauuuu zu. Das Publikum im vollen Hörsaal des Tübinger Kupferbaus hört. Und dann macht dieser Dozent etwas ziemlich ungewöhnliches. Er macht den Professor fertig, der ihn zur Gastvorlesung zum Thema Doping eingeladen hat. Zwar nur in zwei Sätzen, aber er macht ihn fertig. Dass Helmut Digel es mitgekriegt hat, davon kann man ausgehen. Der Soziologieprofesssor und Vizepräsident des Internationalen Leichtathletikweltverbandes IAAF sitzt an diesem Dienstagabend in Reihe eins und liest das Manuskript mit. Aber Baumann darf sich nichts anmerken lassen. Als er Digels Namen erwähnt, richtet ein Fernsehteam sofort die Kamera auf ihn.

Der Name des Dozenten ist Dieter Baumann. Er und Digel waren ein Paar, wie es kein anderes gab im deutschen Sport: Der eine Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes (1993-2001), der andere Olympiasieger. „Väterlicher Freund“ hat Baumann ihn genannt. Seite an Seite kämpften sie in den 90ern gegen Doping im Hochleistungssport wie sonst niemand im Land, was ihnen Respekt aber auch Feinde eintrug. Das war, bevor im Herbst 1999 zwei positive Dopingproben bei Baumann gefunden wurden und vieles anders wurde.

Nach der Vorlesung sitzt Baumann in einem Tübinger Restaurant, isst Kässpätzle und muss über sein Buch* reden, das in dieser Woche erschienen ist. Daweist er diese Interpretation der Szene zurück. Er hat Digel nicht fertiggemacht. Er hat nur zwei Zitate gegenübergestellt. Im einen sagt der Funktionär Digel das Gegenteil dessen, was im andern der Soziologe Digel sagt. Wozu macht er das, wenn es sich nicht gegen Digel richtet?

In einer der wichtigsten Szenen des Buches beschreibt er, wie Digel ihm erst sagt, er „glaube“ ihm und ihn dann auffordert, das „Opfer“ für das System zu bringen und sich schuldig zu bekennen.

Das ist der Kern des Konflikts zwischen Baumann Digel und vielen Funktionären, Journalisten und anderen, die ihn umso stärker ablehnten, je weniger er bereit war, nachzugeben. Die einen wollen das Rechtsystem des Sports erhalten, wonach jeder gedopt hat, der positiv getestet wird, egal, ob er tatsächlich schuldig ist oder nicht. Weil sie behaupten, sonst breche alles zusammen. Dagegen verlangen Baumann und seine Anhänger Differenzierung und als Verfahrensgrundlage, die Klärung der Frage, wie und ob die verbotene Substanz absichtlich in den Körper kam.

„Ein wahrer Anti-Doping-Kampf setzt Gerechtigkeit voraus“, sagt Baumann im Hörsaal der Universität, „sonst verliert er jede Moral und entlarvt sich als Hülse.“ Einen Tag nach Ablauf seiner zweijährigen Dopingsperre ist Dieter Baumann öffentlich als Anti-Doping-Kämpfer aufgetreten. Professor Digel bleibt unbeeindruckt. In Reihe eins dreht ersich um und brummelt ins Auditorium: „Ja, ja und am Ende sind alles nur noch arme Opfer.“

Nach wie vor gibt es zwei Lager

Baumann tritt mit einer Selbstverständlichkeit auf, die bei vielen Menschen Unverständnis auslösen wird. Wie kann er nur? Nach wie vor gibt es zwei Lager, jenes das Baumann als Opfer eines Anschlags sieht - und jenes, das ihn als den perfidesten Doper und Täuscher betrachtet, seit? Na, mindestens seit Erfindung und Massenproduktion von Oral-Turinabol durch das Jenenser Chemieunternehmen Jenapharm.

Aber Baumann macht nicht einfach da weiter, wo er vor zwei Jahren aufgehört hat. Sein Kernsatz ist heute: „Ohne entsprechendes Umfeld ist es keinem Athleten möglich, zu manipulieren.“ Das Umfeld sind die Trainer, die Ärzte und speziell die Funktionäre, die Doping „als Schadensbegrenzung“ betreiben, Scheinheiligkeit mit „juristischer Hilflosigkeit“ anreichern und den positiv getesteten Athleten als Sündenbock aussortieren. Ohne sich darum zu scheren, dass der Sportler vom funktionierenden System einfach durch den Nächsten ersetzt wird.

Alle reden in diesen Tagen von „Abrechnung“. Die Zeitungen, die die Vorabdruckrechte gekauft haben, die Nachrichtenagenturen, die sie interpretiert haben.

Ist ja naheliegend. Ein Mensch, der sich perfide verraten wähnt, hat Rechnungen offen. Mit Opportunisten, die ihn verlassen haben, als es ernst wurde. Speziell auch mit jenem, den Baumann „den Täter“ nennt, jenem Unbekannten, der ihm damals nach Einschätzung des in Deutschland letztinstanzlich urteilenden Schiedsgerichts das anabole Steroid Nandrolon in die Zahnpastatube injiziert hat. Wozu? Um Baumann loszuwerden, der im Buch erstmals zugibt, damals noch über eine Zukunft als DLV-Präsident nachgedacht zu haben. Ein Schreckensszenario für viele in der Branche.

Aber Baumann isst Kässpätzle und sagt, er wolle nicht abrechnen. Er will seine Geschichte erzählen.

Sofort, als es losging damals, im November 1999 hat er Notizen gemacht, Sitzungsprotokolle, hat Diktafone besprochen. Schreiben, um nicht verrückt zu werden. Schreiben, um es aus dem Kopf zu bekommen. Erst später kam sein Freund und Medienberater Josef-Otto Freudenreich und überzeugte ihn. Die beiden haben 1995 auch beim ersten Buch Baumanns zusammengerarbeitet. Es trug den Titel „Ich laufe keinem hinterher“.

Im Gegensatz zu anderen Sportlern schreibt Baumann selbst – seine Kolumnen in der taz und einer Leichtathletikzeitschrift und auch sein neues Buch. Im März hat er angefangen, und erstaunliche Erfahrungen gemacht: Je härter er trainierte, desto mehr und schneller schrieb er.

Wenn man das Buch liest, merkt man, dass es mehr als eine Abrechnung ist. Es ist eine Chronologie und Verarbeitung des Erlebten, es geht der Frage nach, wie das Sportsystem mit ihren Athleten macht. „Wie geht man mit Menschen im Hochleistungssport um?“, fragt Baumann auch an diesem Dienstagabend.

Das Buch ist auch eine Liebeserklärung an das Laufen jenseits des Wettkampfes. „Ich konnte mir nie vorstellen, auch nur eine Stunde einfach so zu laufen.“ Der Wettkampf war immer das Ziel. Als Baumann das schöne, geordnete Sportlerleben verloren hatte, konnte er überhaupt nicht mehr laufen. Der Lebenslauf war gestoppt. Baumann blieb gelähmt einfach stehen. Klassisches Sportler-nach-der-Karriere-Dilemma: Was tun, wenn es vorbei ist? Bei Baumann war es so, dass er nach zwei Monaten plötzlich wieder loslief. Ohne Wettkampf in Aussicht. Natürlich geht es um das Weitermachen, ein zentrales Thema Baumanns. Aber auch darum, dass er seither weiß: „Ich werde immer laufen. Ich kann beruhigt mit dem Leistungssport aufhören.“

Macht er aber nicht, obwohl er demnächst 37 wird. Er läuft wieder los. Diese Woche ist seine Woche. Am Dienstag war der Univortrag, morgen stellt er in Stuttgart das Buch offiziell vor, am Sonntag in Dortmund läuft er erstmals wieder – in der Halle über 3.000 Meter.

Konsequenz bis zum Ende

Die Veranstalter rennen ihm wieder die Bude ein. Sein Verlag dva hat dem Titel oberste Priorität gegeben. Das „Schicksal“ sei es, was die Leute fessle. Der Obersportchef des Springer-Synergieunternehmens aus Welt, Wams und Berliner Morgenpost hat die Vorabdruckrechte für einen sechstelligen Betrag eingekauft, um seine Blätter mit Baumanns Geschichte aufzuwerten.

In der Morgenpost schreibt der Ressortleiter Sport über den ganzseitigen Vorabdruck erstaunliche Dinge: „Ich glaube Baumann nicht. Habe ihm nie geglaubt“. Grund: „A-Probe, B-Probe, schuldig“. Das ist eine für den Springer-Verlag unübliche Unternehmensselbstkritik. Strategisch betrachtet ist es ungefähr so, als würde bei Bild einer in dicken Buchstaben „Bullshit“ über die Kolumnen von Franz Josef Wagner schreiben. Es zeigt die Gräben im Fall Baumann. Es zeigt auch,wie sehr der eigentlich doch mit Ablauf der Sperre erledigte Fall immer noch die Menschen beschäftigt. Vielleicht ist das Besondere auch seine Einzigartigkeit. Es gibt keinen anderen Athleten, der seine Sache ähnlich konsequent durchgezogen hat, wie Dieter Baumann. Bis zum bitteren Ende. Da sind sich beide Lager einig. Denn entweder er ist ein konsequenter Betrüger oder ein konsequenter Unschuldiger.

Ein letztes Mal: Keine Abrechnung, keine Rache? „Erstens habe ich nicht verloren, es ist noch nicht vorbei, zweitens muss man sich freimachen von Rachegelüsten“, sagt Baumann so souverän, als habe er in all den Monaten nie an Mord oder Schlimmeres gedacht. Was dann? „Diese Leute sollen aber sehen: ich bin auch noch da. Und damit müssen sie sich auseinandersetzen.“

Helmut Digel übrigens hat die Auseinandersetzung bis auf weiteres vermieden. Er werde den Teufel tun, und Baumanns Buch kommentieren, sagte er. Schade, besonders interessant wäre die Stelle, an der Baumann ihn als Anti-Christ beschreibt.

* Dieter Baumann (mit Josef-Otto Freudenreich): Lebenslauf (dva, 2002, 19,90 Euro)

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