: Hunderte Tote bei Panik in Lagos
In Nigerias größter Stadt fliegt ein Waffenarsenal in die Luft und treibt hunderttausende über Nacht in die Flucht. Auf dem Weg kommt es zur Katastrophe: Hunderte von Menschen ertrinken in einem Kanal. Behörden überließen die Fliehenden sich selbst
von DOMINIC JOHNSON
Zuerst dachten die Leute, in Nigeria habe – wie so oft – das Militär geputscht. Die nicht endenwollende Serie gigantischer Explosionen in einer Armeekaserne versetzte die gesamte Bevölkerung der Zehn-Millionen-Stadt Lagos in Angst. Aber die wahre Katastrophe ereignete sich erst, als hunderttausende Anwohner flüchteten. An einem schwer passierbaren Kanal staute sich die Menge, es gab eine Massenpanik, und Hunderte von Menschen ertranken in der Dunkelheit.
„Als ich zur Arbeit ging, waren Polizei und Anwohner dabei, die Leichen herauszufischen“, erzählt gegenüber der taz Nnamdi Inyama, Reporter der Tageszeitung The Guardian, die nicht weit von der Unglücksstelle ihr Verlagsgebäude hat. Der Todeskanal liegt im Westen von Lagos und entwässert das Flughafengelände der zu großen Teilen auf Sumpf gebauten Stadt. Er beginnt südlich des Flughafens beim Stadtteil Mafoluku und zieht sich in einem Sumpfbecken zwischen höher gelegenen Straßen kilometerweit nach Süden, Richtung Hafen. Der Stadtteil Mafoluku hat den Nachteil, zwischen zwei Armen des Kanals zu liegen – er ist praktisch eine Sackgasse, von der Stadtautobahn abgesehen. Die aber war bereits voll von Fliehenden. So endeten alle anderen am Wasser. „Hunderttausende und hunderttausende von Menschen rannten“, beschreibt Inyama die Szene. „Als die ersten an den Kanal kamen, konnten viele nicht schwimmen. Eine Menschenmenge kam ihnen hinterher und immer mehr Menschen drückten von hinten nach. Viele von ihnen fielen einfach hinein.“ Am Morgen zählte Inyama 30 Leichen. Im Laufe des Tages wuchs die Zahl weiter, auf über 580 laut einem Augenzeugen. Allein das Krankenhaus des Stadtteils Isolo meldete Montagvormittag die Einlieferung von 152 Leichen, zumeist die von Kindern. Am Nachmittag hieß es, aus jedem der beiden Kanalarme seien 200 bis 300 Tote geborgen worden.
Ihren Ursprung hatte die Katastrophe in der Explosion der Waffenbestände im „Ikeja Army Cantonment“ im Norden von Lagos. Nach Medienberichten brach am späten Sonntagnachmittag auf einem Markt innerhalb des Armeegeländes ein Feuer aus, das sich in die Waffenarsenale ausbreitete. Als über Lagos die Sonne unterging, begannen die Waffen- und Munitionsbestände einer nach dem anderen in die Luft zu fliegen. Granaten landeten in nahe gelegenen Wohngegenden. Ikeja ist heute das gesellschaftliche Zentrum der Mittelklasse von Lagos.
Ikeja Army Cantonment ist eine von fünf Armeebasen in Lagos. Hier lagert Nigerias Militär unter anderem ihr Kriegsgerät aus den Feldzügen der 90er-Jahre in Liberia und Sierra Leone, bis hin zu Splitterbomben. Die Basis ist historisch verrufen, denn von ihr ging 1966 Nigerias erster Militärputsch aus. Kein Wunder, dass die erste Mutmaßung in Lagos am Sonntagabend war, es habe einen neuen Putsch gegeben. Die politische Lage in Nigeria ist seit der Ermordung des Justizministers Bola Ige am 23. Dezember gespannt.
Die Putschgerüchte wurden noch am Sonntag dementiert, als der Gouverneur von Lagos, Bola Tinubu, mit dem Kommandeur der explodierten Basis vor die Fernsehkameras trat. „Es gibt einen Unfall im Waffendepot“, erklärte Tinubu. „Es ist ein Unfall mit Bomben hoher Sprengkraft und sie werden noch eine Weile explodieren.“ Daraufhin machten sich die Bewohner der Gegend erst recht auf den kilometerlangen Weg in sicherere Stadtteile – ohne die geringste Hilfe der Behörden, die sich allein um die Evakuierung der Bewohner der Armeekaserne kümmerten. Die Flucht war chaotisch; die Fliehenden nahmen oft nichts mit, und zahlreiche Kinder blieben allein.
Gestern setzte ein ebenso chaotischer Rückzug der Geflohenen in ihre Heimatviertel ein. Staatschef Olusegun Obasanjo besuchte den Unglücksort und ordnete eine Untersuchung an.
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