: Der Frieden ist eine Baustelle
aus Kabul SVEN HANSEN
Rolam Rasuli hockt in einem kaputten Ladenlokal in einer Ruine und hämmert auf einen Metallstreifen ein. Ein alter Stahlträger dient als Amboss. Neben dem bärtigen Rasuli liegt Metallschrott, aus dem er kleine Holzkohleöfen schmiedet. 20.000 Afghani, umgerechnet einen drei viertel Euro, bekommt der Fünfzigjährige für einen Ofen. Einen verkauft er pro Tag. Der Dehbori-Bezirk um Rasulis Laden im Westen Kabuls ist eine einzige Ruinenlandschaft. Hier tobten Mitte der 90er-Jahre heftige Kämpfe zwischen rivalisierenden Mudschaheddin-Fraktionen. In Rasulis Straße steht kein Haus mehr, selbst die Moschee wurde von Raketen getroffen. Zerborstene rote Laternenpfähle zeugen davon, dass es hier einmal Elektrizität gab – zuletzt vor acht Jahren.
„Wenn die internationale Friedenstruppe nicht in der Stadt wäre, würden die Kämpfe zwischen den Kriegsfürsten bald wieder ausbrechen – schon aus Rassismus und Rachegelüsten“, sagt Rasuli und hämmert auf das Metall. Gerade patroullieren britische Soldaten unter großer Anteilnahme der Kinder des Viertels an seinem Laden vorbei. Rasuli sagt: „Es ist gut, dass die Briten hier sind.“
100 Kilometer südlich kämpften schon rivalisierende Fraktionen um die Kontrolle der Provinzhauptstadt Gardez. Es gab 50 Tote. Dagegen überwiegt in Kabul die vorsichtige Hoffnung, dass die Soldaten der von der UNO mandatierten International Security Assistance Force (Isaf) den Frieden sichern.
Das neue Sicherheitsgefühl
„Als die Nordallianz im November Kabul einnahm, hatte ich Angst vor einer Neuauflage früherer Machtkämpfe. Doch seit die Isaf-Truppe hier ist, fühle ich mich sicher“, sagt Adul Sattar. Sein Lebensmittelladen ist eine offene Holzhütte, die er vor die Ruinen baute und in der er selbst keinen Platz hat. Eier, Reis, Kartoffeln, Zwiebeln, Streichhölzer und Shampoo der Marke „Titanic“ verkauft er hier in der Kälte. „1994 wurde mein Laden von einer Rakete zerstört. Dann unter den Taliban wurde ich dreimal ausgeraubt. Doch jetzt ist die Situation sicher. Es wird noch besser, wenn mehr internationale Soldaten hier sind“, sagt der Fünfzigjährige mit dem weißen Bart. „Unter den Taliban kontrollierte Pakistan unser Land.“
Im Dehbori-Distrikt sind die sonst in Kabul allgegenwärtigen Porträts des im September durch ein Attentat getöteten Militärführers der Nordallianz, Achmad Schah Masud, nicht zu sehen. Denn auch er hatte das Viertel von den jetzt im Winter schneebedeckten Bergen aus mit Raketen beschießen lassen.
Die Taliban bauten nichts wieder auf. „Die wirtschaftlichen Probleme nahmen zu, die Taliban zerstörten unsere Wirtschaft“, sagt Altmetallschmied Rasuli. Inzwischen hat der Tadschike seinen Halbtagsjob in der Werkstatt des Transportministeriums wieder, den er nach der Machtübernahme der Taliban 1996 verlor. „Das Leben ist besser geworden, seit die Taliban weg sind“, sagt auch Hassan Adam Khan, obwohl der 26-jährige Paschtune arbeitslos ist. „Unter den Taliban gab es keine Freiheit. Doch jetzt ist Arbeit unser Hauptproblem.“
Auf dem Basar Jada Mandawi im weniger zerstörten Zentrum der Zwei-Millionen-Stadt drängen sich die Menschen. Das Angebot ist reichhaltig für diejenigen, die es sich leisten können. Aus Lautsprechern tönen orientalische Rhythmen. Selbst der Burkahändler Arun Jalanda macht gute Miene zu seinem neuerdings schlechten Geschäft. „Unter den Taliban habe ich täglich 40 bis 50 Burkas verkauft, seit ihrer Vertreibung sind es nur zehn bis 20 am Tag“, sagt der Achtzehnjährige. Er hat das seit 20 Jahren bestehende Geschäft von seinem Vater übernommen. Trotz der Einbußen glaubt er, dass das Geschäft weiterlaufen wird. „Auch unter den Kommunisten wurden viele Burkas gekauft.“
Auf Kabuls Straßen sind 90 Prozent der Menschen Männer. Zur Pakul genannten Filzmütze oder dem Turban tragen viele von ihnen Teile von Militärkleidung. Von den Frauen sind nur wenige ohne Ganzkörperschleier unterwegs. Doch laut Jalanda wurden auf dem Jada-Mandawi-Basar bereits sechs der zehn Burkastände geschlossen. Deren restliche Kundinnen hofft er jetzt zu übernehmen. Seine zwei Angestellten musste er noch nicht entlassen, sie müssten aber auch nicht mehr so hart arbeiten.
Die Sorgen der Burkaschneiderin
Das blaue Tuch für die Burkas stammt aus Korea. Jalanda lässt es in Heimarbeit von Frauen nähen, vorn besticken und hinten faltig bügeln. Gerade betritt eine Frau mit einem Sack neuer Ganzkörperschleier Jalandas Laden, auch sie trägt eine Burka. Die Burkaschneiderin heißt Lisa, ihren Nachnamen will die Einunddreißigjährige nicht nennen. Von einem Nachfragerückgang nach der Vertreibung der Taliban habe sie noch nichts gemerkt: „Meine Arbeit geht aber schlecht, weil es so wenig elektrischen Strom gibt“, sagt Lisa. „Mit Elektrizität könnte ich zehn Burkas am Tag produzieren, ohne Strom nur eine.“ Händler Jalanda macht Dürre für die geringe Leistung der Wasserkraftwerke und damit den Strommangel verantwortlich.
Die 43 Jahre alte Hafifa Baktiar aus dem Viertel Taymani im Norden Kabuls gehört zu den wenigen Frauen, die sich inzwischen ohne Ganzkörperschleier aus dem Haus trauen. Jetzt trägt sie nur noch ein Kopftuch. „Unter den Taliban durfte ich nicht allein auf die Straße, doch jetzt kann ich allein einkaufen und mit den Händlern freier verhandeln.“ Von ihren drei Söhnen starb einer 1994 im Kreuzfeuer rivalisierender Mudschaheddin. „Meine vier Töchter tragen auch jetzt noch die Burka“, sagt Baktiar. Das hält sie für sicherer. „Ich habe viel Vertrauen in die von der UNO geschickten Soldaten.“ Wie viele andere fordert sie: „Es sollten noch mehr kommen.“
Baktiar ging nie zur Schule. Sie will aber ihre Töchter zur Schule schicken, wenn am 22. März die Winterferien enden. Während die älteren Töchter vor der Herrschaft der Taliban schon wenige Jahre unterrichtet wurden, kennen die jüngeren überhaupt keine Schule. In Taymani sind die Hasara deshalb bereits aktiv geworden und unterrichten seit zwei Wochen in den ungeheizten Räumen der Ismaeliten-Moschee knapp 500 Schüler und Schülerinnen selbst. „Wir unterrichten hier Englisch, Französich, Dari, Mathematik, Geografie und Religion“, erklärt Englischlehrer Nasir Achmad Achmadie. „Die Taliban hielten uns davon ab, Englisch zu lernen“, sagt er. „Jetzt gibt es danach ein großes Verlangen.“ Die 25 freiwilligen Lehrer bereiten die Kinder auf die Schule vor und bieten dann ergänzende Kurse an.
In den ungeteerten Straßen von Taymani, wo unverputzte Häuser aus hellen Lehmziegeln und ummauerte kleine Höfe überwiegen, sind nur wenige Menschen unterwegs. Dagegen tobt am Dienstsitz von Mir Aqa im Zentrum Kabuls zumindest tagsüber das Leben. Der 36 Jahre alte Tadschike ist Kommandant der 120-köpfigen Polizeieinheit am Deh-Afghanan-Platz vor dem Rathaus von Kabul. Aqas Büro befindet sich vor der Kreuzung mitten im Verkehrschaos, es stinkt nach Dieselruß. „Information“ steht auf seiner ungeheizten Hütte. Hinter einem speckigen Schreibtisch gibt er Untergebenen Anweisungen.
Seit 18 Jahren ist Aqa Polizist. Unter den Taliban ging er nach Pakistan, seit zwei Monaten hat er seinen alten Job wieder. Einige Polizisten seien mit den Taliban geflohen, sagt der Kommandant, doch „70 Prozent meiner Männer waren unter den Taliban Polizisten wie vorher schon. Ich kenne sie gut, es gibt mit ihnen keine Probleme“. Aqa trägt eine Lederjacke über der grünen Filzuniform. Er hat keinen Bart mehr. „Es wurde uns nahe gelegt, uns zu rasieren, bald wird das wohl vorgeschrieben.“
Vor Aqas Fenster bewegen sich die ineinander verkeilten gelbweißen Taxis und die alten Busse nur langsam voran. In Kabul sind fast alle Ampeln kaputt. Die unbewaffneten Verkehrspolizisten genießen wenig Autorität, wenngleich insgesamt kaum noch Waffen zu sehen sind. Manchmal brüllt Aqa in ein Mikrofon und fordert über Lautsprecher, die Kreuzung frei zu machen. Busse fahren vorbei, auf denen deutsche Aufschriften von einem ersten Leben in Europa zeugen: Ein Schriftzug lautet „Harzreisen“, ein anderer „Bequem Reisen“ – und das, obwohl bei Temperaturen um den Gefrierpunkt Männer auf dem Busdach sitzen.
Die Polizisten warten auf Geld
Kommandant Aqa sagt, unter den Kommunisten hätten seine Männer Autos und Motorräder gehabt. Heute hätten sie nur noch Funkgeräte. Trotzdem sei sein Bezirk sicher. „In der letzten Woche gab es hier nur einen Diebstahl.“ Doch er und seine Männer hätten von der neuen Regierung noch kein Gehalt bekommen, viele auch schon unter den Taliban nicht mehr. „Die Moral ist niedrig“, räumt Aqa ein. Mit Korruption gebe es hier aber keine Probleme, sagt er und schüttelt beteuernd den Kopf. „Die von Deutschland angebotene Polizeiausbildung ist willkommen.“ Die Deutschen sollten auch die Polizeiausrüstung reparieren, die zum Großteil aus Deutschland stamme, und seinen Männern beibringen, den Verkehr zu regeln. Noch löst sich dieses Problem täglich nach Einbruch der Dunkelheit gegen 17 Uhr 30 von selbst. Eine Stunde später wirken die fast unbeleuchteten Straßen gespenstisch. Die Geschäfte sind bis auf ganz wenige Restaurants geschlossen. Nur selten rumpeln Autos durch die Nacht. Um 22 Uhr ist auch damit Schluss. Dann beginnt die Sperrstunde.
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