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Der Film in der Revolte

Die Retrospektive der Berlinale widmet sich den „European 60s“: Einheitlich waren sie aber nicht, die europäische Kino-Avantgarde marschierte getrennt. Zeit für eine neue Rezeptionsbewegung?

Mit den Italowestern emanzipierte sich der neue Film von seinen Rezensenten

von DIETRICH KUHLBRODT

Mag ja sein, dass die Filme der 60er-Jahre jetzt dem Europäer zur Identitätsfindung dienen. Nur zu. Ich kuck sie mir auch noch mal an. Vielleicht klappt’s ja. Dass wir am Anfang einer neuen Rezeptionsbewegung stehen. Für den neuen Kontext ist jedenfalls gesorgt. Die Filme, dreißig, vierzig Jahre danach – sie sind jetzt Exponat. Das Design des Katalogs ist einladend, es empfindet Flugblätter des 68er-Jahrzehnts nach. Man muss das Buch gern haben. Ein nostalgischer Touch darf sein, und vielleicht ist auch für jeden was dabei. Vielleicht sogar, um was Neues damit anzufangen. Stehen wir gar am Anfang einer neuen Rezeptionsbewegung? Das wäre eine würdige Hommage an die Filmbewegung, die 1961 begonnen hatte. Aber im Ernst: Die europäische Filmpräsentation findet nichts Gemeinsames vor, das zu ehren und zu würdigen wäre. Es sei denn, man lobe die Identitätenvielheit der 60er-Filmjahre.

Karl Prümm, der sympathische Professor, schickt sich allerdings an, mich eines Besseren zu belehren. Für ihn gibt Westeuropas Kultur der 60er-Jahre „ein frappierend einheitliches Bild“ ab. So wird er das am 9. Februar im Filmmuseum vortragen. Das Jahrzehnt verabschiede sich von der bürgerlichen Welt und ihren Formen. Es höre nicht auf die Revolutionäre. Es breche „jenseits der überspannten politischen Rhetorik“ zu etwas auf, das man Popkultur nennen werde und unverbindliches Experiment. Man blicke zurück auf eine „erregend-aufregende Zeit“. Aber gilt dieses Diktum auch für die Filme, die jetzt wieder besichtigt werden können? Sie hinterließen, wenn ich mich recht erinnere, einen Eindruck, der uneinheitlich ist. Vielleicht war und ist grade das ihre Stärke. Mit dem Oberhausener Manifest, 1962, brachen die jungen deutschen Filmmacher mit den Vätern, mit Opas Kino. In Italien wurde dagegen die Kontinuität mit den Vätern gesucht, jedenfalls mit den Neorealisten, deren Tradition es zu beleben und zu pflegen galt. In England waren die angry young men, die erst über Filme schrieben, bevor sie welche machten, Zentrum eines kulturellem Umbruchs, der die Grenzen zu Mode, Musik und Politik niederriss. In Schweden dagegen passte sich der Film in die bürgerlich-skandinavische Kultur ein. Gesellschaftlich brisant wurden die Filme von Sjöman und Widerberg erst dank der Interpretationskünste der linken Filmkritik. In München suchten die jungen Leute den Spaßfaktor im amerikanischen Kino (Klaus Lemkes „48 Stunden bis Acapulco“). Spils’ „Zur Sache Schätzchen“ wurde in der Intellektuellenzeitschrift Filmkritik reserviert aufgenommen. Gewertet wurde er als Durchschnittsware. Peter W. Jansen nannte ihn einen „Film der entschlossenen Unentschiedenheit“. Dagegen stießen diejenigen Filme des sozialistischen Lagers auf Begeisterung, die ihre subversive Botschaft in den Formen hoher Kunst zu verstecken wussten. Nein, ich bleibe dabei, Europas Filme marschierten getrennt. Den Feind vereint zu schlagen, war sicherlich unser Wunsch gewesen. Aber gegen wen genau sollte das gehen? Gegen die DDR, die 1965 eine komplette Jahresproduktion der Defa abwürgte (und damit, wie wir heute wissen, einen Nagel in den eigenen Sarg schlug)?

Die Retrospektive wird von Veranstaltungen begleitet, die die Differenzen jener Jahre herauskehren werden. Behaupte ich hier einmal. In der BRD startete das vielstimmige Film-Jahrzehnt mit einem Filmdesaster. Und es endet mit einer Rezeptionskatastrophe. Ich habe das damals mitbekommen. Wir schrieben in der Zeitschrift Filmkritik, und wir warteten auf das, was mit dem Kino der Adenauerzeit Schluss machte und für das ungewisse Neue, das wir damals „unkonformistisch“ nannten, eintrat. Wir waren damals so alt wie viele heute, die sich die Retrospektive ansehen werden, um die dreißig. Und dann kam voller Hoffnung Herbert Veselys „Das Brot der frühen Jahre“ (1961/62).

Vesely hatte vom Nouveau Roman gehört. Ein Festivalfilm. „Ein Misserfolg“, schrieb Le Monde. Wir orientierten uns an Paris. „Ein Misserfolg“, stand dann auch in der Filmkritik. Aber die Begründung differierte. Für die Libération verstieß der Film gegen Sehgewohnheiten, was „bewirkt, dass es praktisch unmöglich ist, diesem Film zu folgen, ohne nicht gleich hinterher die Augen mit einem Tonikum zu behandeln und einige Röhren Aspirin zu schlucken, um die Migräne zu bekämpfen, die er hervorruft“. Was am „Brot der frühen Jahre“ störte, war dagegen für die Filmkritik ein Verstoß gegen die gesellschaftliche Funktion: „Die Figuren sind aus der gesellschaftlichen Verankerung gelöst.“ Was nicht sein durfte. Oder doch? Im Combat war eben gerade darin ein „Protest gegen das ‚deutsche Wirtschaftswunder‘ und die unterschwellige Habgier, die in ihm steckt“, zu sehen.

Und nun der Schluss der Dekade, die Rezeptionskatastrophe der einst wegweisenden Filmkritik. „Leichen pflastern seinen Weg“. In der Bewertungstabelle raffte sich die Hälfte der Filmkritiker zu einem mageren „sehenswert“ auf, die andere beurteilte den Film als „langweilig“ und „ärgerlich“. Enno Patalas, später Direktor des Münchner Filmmuseums, hasste den Film: „Was immer an einem amerikanischen Western je betörte und entzückte, in diesem Film wird das Gegenteil gezeigt und getan. Statt nobler Gelassenheit barbarische Hektik.“ Buñuels „Ich hasse die schwarzen Filme!“ finde hier „volle Rechtfertigung“.

Das neue Genre des Italowestern verstieß nicht nur gegen Seh-, sondern vor allem Denkgewohnheiten der Filmkritik. Anders herum: Ende der 60er befreite sich der neue Film (in der BRD) von seinen Rezensenten. Hier ließ die Filmkritik Gespür vermissen. Und doch gab es zwischen Film- und Rezeptionskatastrophen Mitte der 60er unterschwellige Vorlieben, die fast nie im Text zum Vorschein kamen. Wir waren diskursiv auf der Suche nach gesellschaftlicher Relevanz und unterschwellig auf der nach Titten. Warum veröffentlicht die Filmkritik zum finnischen Film „Offenes Geheimnis“ (Yksityisalue) keinen Text, wohl aber (1963) ein Foto? Drei nackte Frauen sind darauf zu sehen. Sie springen in einen See. Und was noch auf dieser Seite? Eine nackte Frau mit den Füßen im Wasser („Kleine Aphroditen“).

Freizügiges zu zeigen, war zeitgenössisches Anliegen. Es wurde politisch interpretiert. Es war gesellschaftlich relevant. Relevant jedenfalls für Peter Michael Ladiges. Er sah 1968 Ula Stöckls „Neun Leben hat die Katze“. Er pickte eine Sequenz heraus. Eine Frau befriedigt sich selbst. – Er war der einzige, der den Film „vorzüglich“ fand. Die anderen – alles Männer – votierten in der Mehrzahl für „ärgerlich“ und „zwiespältig“. – Und nun Ladiges’ Begründung. Sein Fazit: „Es gibt in Ula Stöckls Film eine Sequenz über die Onanie, die Selbstbefriedigung. Da sehe ich die einzige Möglichkeit, sich aus der eigenen Situation zu ziehen, den Zwang zu durchbrechen, der es den Frauen als Produkte unserer Gesellschaft unmöglich macht, Unabhängigkeit und Freiheit zu gewinnen, der ihre vielleicht doch mögliche Solidarität aus Gründen irgendeiner Notwendigkeit verhindert. Das heißt für die Frauen, endlich den Trieben (dem Antreibenden von oben oder von unten) ein Schnippchen zu schlagen. Sich zu entziehen, nicht in der Verweigerung eines Dienstes, sondern in der eigenen Befriedigung.“ That’s it. Das ist Jahrgang 1968. 33 Jahre später, am 2. Februar 2002, wird Ula Stöckl die Reihe des Berliner Filmmuseums eröffnen.

Freizügiges zu zeigen, war ein Anliegen der Zeit. Es wurde nur politisch interpretiert

Um es klar zu sagen, uns ging es zumindest zu Beginn der 60er-Jahre um den gesellschaftlichen Nutzen der Filme. Noch klarer sagte dies die „Kleine Enzyklopädie Film“, die 1966 im VEB Bibliographisches Institut Leipzig erschienen war. Dafür, dass ein Film wie Joachim Kunerts „Das zweite Gleis“ zu den „nützlichen Filmen“ zu rechnen war, kam es, so lesen wir, auf Genre und Qualität nicht an. In der BRD benutzten wir ein etwas anderes Vokabular. Das Ergebnis stand dem DDR-Diktum in nichts nach. Wir waren da pästlicher als der Papst. Selbst ein Film aus dem sozialistischen Lager musste sich belehren lassen. Klaus Hellwig bemäkelte 1967 beim ungarischen Film „Im Wirbel“ (Sodrásban) „formale Brillanz bei gleichzeitiger Nichtigkeit des Inhalts“. Oder: „Der Film ist ärgerlich, die Fabel lächerlich.“ Das schrieb Uwe Nettelbeck 1964 zum polnischen Film „Allerseeelen“. Schwierigkeiten gab es eine Zeitlang, wenn die Filmhelden kein Vorbild für gesellschaftliche Aktivität abgaben. Ein Film wie der schwedische „Roulette der Liebe“ (Kærlek 65) wurde als ärgerlich, zwiespältig und langweilig eingestuft, denn: „die Personen des Films, statt Initiativen zu ergreifen, lassen sie sich treiben“.

Wenn es richtig ist, dass Filme erst im Kino existent und vorher nichts als beschichtetes Zelluloid sind, dann gehört zur Retrospektive auch Rezeptionsgeschichte. Wie wurde in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre das neue Phänomen der Gammler beurteilt, der „Protestler, auch Gescheiterten“ (Filmkritik). Waren das etwa Vorbilder? Peter Fleischmann hatte sie im Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“ porträtiert. – Was denn nun? „Bezieht er eindeutig genug für die Gammler Position und gegen die Vorurteile?“ Liest man die Kritik, die Heinz Ungureit 1967 schrieb, hat man den Eindruck, dass die Gammler damals Opfer von Fremdenfeindlichkeit waren: „Eben in der direkten Gegenüberstellung von Gammlern und Bürgern hat der Film seine stärksten Momente. Hier kommt alles Unverständige, Faschistoide, alles Unleidliche dem Fremden gegenüber zum Vorschein. Wenn deutsche Gammler arbeiteten, wären wir die Gastarbeiter los, heißt ein Argument. Das andere wiederkehrende: unter Hitler hätte es das nicht gegeben, der hätte damit ‚aufgeräumt‘. Eine junge Dame empfiehlt gleich: ausrotten, umbringen. […] Wer zu sehen versteht, wird freilich auch so von mancher Gammler-Geste eingenommen sein, etwa der Lässigkeit, mit der einer seine Hand aus dem Schlafsack steckt, um den lästigen Ausweis von der lästigen Polizei wieder an sich zu nehmen“ (Filmkritik 11/67).

Wer zu sehen versteht, hört nicht auf Worte. Das führt aus den Filmen der 60er-Jahre heraus. Brillante, großformatige Fotos sind es denn auch, die im Katalogband zum Sehen einladen. Unter den vielen zeitgenössischen Texten, zur Kontextualisierung der Filme der 60er-Jahre unerlässlich, finden sich gewichtige Worte, die sich der Filme annehmen. Von Jean-Luc Godards Statement „Was ist Kunst“ bis zum Schlusswort Walter Ulbrichts auf der 11. Tagung des ZK der SED 1965.

„European 60s. Revolte, Phantasie & Utopie“. edition text + kritik, 25 €

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