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Orwell am Krankenbett

Polens Gesundheitsminister sieht nach dem Skandal um skrupellose Notärzte in Lodz plötzlich Reformbedarf. Sein Heilmittel: ein zentralisiertes Gesundheitssystem unter völliger Staatskontrolle

aus Warschau GABRIELE LESSER

Wenn heute Ambulanzen mit Blaulicht durch die Städte Polens rasen, lässt dies den Passanten das Blut in den Adern gefrieren: „Sind die Skalpjäger wieder unterwegs? Wird der Patient lebend im Krankenhaus ankommen? Oder wird er Opfer der Leichenhändler und an ein Bestattungsunternehmen verhökert?“

Der Skandal um die Geschäftsbeziehungen zwischen den Lebensrettern und den Totengräbern in Polens zweitgrößter Stadt Lodz hat die Ärzteschaft Polens vollends in Verruf gebracht. Denn dass Polens Krankenhausärzte die Hand aufmachen, bevor sie eine Behandlung beginnen, ist nicht nur Überzeugung unter den Patienten, sondern wird auch immer wieder öffentlich angeprangert. In Lodz aber sollen Notärzte ihr Gehalt nicht nur aufgebessert haben, indem sie bei Bestattungsinstituten bis zu 500 Euro für jeden Toten kassierten, sondern auch dem Tod nachgeholfen haben. Die Vorwürfe reichen von bewusst verzögerter Anfahrt zum Unfallort bis zur Verabreichung eines muskellähmenden Medikaments, das zum Ersticken führen kann. Die Polizei hat 14 Verdächtige festgenommen, von denen 7 in Untersuchungshaft sitzen.

Laut Mariusz Lapinski, dem sozialdemokratischen Gesundheitsminister, sind diese „pathologischen Zustände“ des polnischen Gesundheitssystems auf die verfehlte Reform zurückzuführen, die die Mitte-rechts-Regierung unter Jerzy Buzek vor gut drei Jahren durchgeführt hatte. Um den Missständen abzuhelfen, will Lapinski die ganze Reform rückgängig machen. Die vor drei Jahren eingeführten Krankenkassen soll ein zentraler Gesundheitsfonds ersetzen, den das Ministerium verwaltet und kontrolliert. Auch die Notfalldienste sollen wieder verstaatlicht oder unter stärkere staatliche Kontrolle gestellt werden.

Zwar werden diese Maßnahmen die Korruption kaum eindämmen, wie Lapinski im Magazin Wprost zugibt, aber er weiß keine andere Lösung: „Wir müssen die Kontrolle wieder übernehmen.“ Obwohl laut Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CBOS 74 Prozent der Polen mit dem Gesundheitssystem unzufrieden sind, fürchten sie, dass der Rückfall ins sozialistische System zum völligen Zusammenbruch der Gesundheitsfürsorge führen könnte. Experten malen gar das Schreckgespenst einer Orwell’schen Gesundheitsmaschinerie an die Wand, die von Warschau aus die knapp 40 Millionen Polen mit Grippemitteln, Verbänden und Operationen versorgen will.

Die Fehler der Reform unter Buzek lagen in ihrer Inkonsequenz. Die Idee, das marktwirtschaftliche Prinzip der Konkurrenz einzuführen, wurde nur halbherzig umgesetzt. So entstanden neben den staatlichen Krankenhäusern zahlreiche private sowie große Gemeinschaftsarztpraxen, doch das Krankenkassensystem wurde zunächst nur staatlich konzipiert. Private Krankenkassen sollten zugelassen werden, wenn sich die staatlichen bewährt hätten. Dadurch aber entstand ein Zweiklassensystem, das der Korruption Tür und Tor öffnete. Wer es sich leisten konnte, zahlte ein Bakschisch und bekam eine Vorzugsbehandlung im staatlichen Krankenhaus oder ging gleich in ein privates Spital. Zudem entstanden zu viele Krankenkassen – 16, die je nach Wojwodschaft (Verwaltungsbezirk) über vier Millionen Mitglieder haben können wie in Masowien rund um Warschau oder nur knapp eine Million wie in den strukturschwachen Gebieten entlang der Ostgrenze.

Die kleineren Kassen stehen heute alle vor dem Bankrott. Zu schaffen macht ihnen besonders die hohe Arbeitslosigkeit. Arbeitslose und Bauern zahlen keine oder geringe Beiträge, sind aber oft schwer krank. Zwar gibt es zwischen den Kassen einen Finanzausgleich, aber zwei reiche Kassen – Masowien und Schlesien – können nicht 14 arme oder fast mittellose finanzieren.

Statt die Zahl der staatlichen Kassen zu reduzieren und noch ein oder zwei private zuzulassen, die ebenfalls zum Finanzausgleich beitragen könnten, will Lapinski die 16 regionalen Kassen liquidieren, ihr Vermögen einziehen und eine neue zentralistische Struktur aufbauen. Die Reform bestehe darin, so Lapinski, dass der Staat wieder die völlige Kontrolle über alle Patienten und damit über die Ausgaben für deren Gesundheit haben werde. Dies garantiere eine „gerechte und gute Gesundheitsfürsorge für alle“. Die Tageszeitung Gazeta Wyborcza titelte: „Die Gesundheit bin ich“, und sah den Minister persönlich am Krankenbett sitzen, die Fieberkurve kritisch im Blick. „Da kommt Orwell auf uns zu“, fürchtet Katarzyna Tymowska, die in Warschau Medizinökonomie lehrt. „Die Rosskur, die Minister Lapinski uns verschreiben will, ist schlimmer als die Krankheit, an der wir leiden.“

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