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Eine Stimme mit Eigensinn

„ruf ihn doch mal an!“, hat er gesagt, und sie: da sei nichts dabei, „es ist ganz einfach. du nimmst eine rolle ein. du stellst ihm aus einer position fragen. eine position, die einem postindustriellen prototypus entspricht. und er wird antworten.“ so das projekt „telefonieren mit kluge“ der zeitschrift spector.

ich stelle nachforschungen an. „hast du schon mit kluge telefoniert?“, „haben sie schon?“, frage ich unermüdlich, und es stellt sich heraus: tatsächlich. ein guter teil der leute sagen ja. sie hätten schon. und er sei nicht einmal unfreundlich. man könne mit ihm reden. die sekretärin? auch freundlich. man komme durch.

nicht auszudenken: alle welt telefoniert mit kluge, und kluge antwortet wahrscheinlich mit seiner stimme. schon alleine die ist unheimlich, das weiß jeder. so mancher hat versucht, sie nachzuahmen, und alle sind sie daran gescheitert. zum ersten mal habe ich sie gehört in seinem film „die patriotin“ [1]beim rezitieren des gedichtes „ein knie“ von christian morgenstern. dieser leicht hektische duktus, in dem er sagt, „ein knie geht einsam um die welt. es ist ein knie sonst nichts. es ist kein baum, es ist kein zelt, es ist ein knie, sonst nichts.“ das genügte, ich musste die sache verfolgen.

– ein anhaltinischer akzent, meint die audiographin und spector-redakteurin anne könig. aber sie könne es nicht mit großer sicherheit sagen, er spreche den dialekt nicht vollständig, „aber da gibt es reste“. „ein arzt aus halberstadt“, denke ich. und ein befreundeter stimmexperte meint auch „anhaltinisch“ – und der duktus? – inquisitorisch, zumindest habe es davon was. aber da müsse man vorsichtig sein. es ist dieses nachhakende, das die spur verfolgende, widersprüche benennende, ja, den anderen in die widersprüche hineinbewegende und quasi geständnis erzeugende, was er in hinblick auf einen strukturell juristischen stimmduktus interpretieren würde. „jurist ist er ja ursprünglich auch.“ – „ursprünglich?“ –

gespräche über kluge sind seltsam. nicht selten beginnen sie mit seiner stimme, seinen befragungsmodi, meist ist es eine mischung aus begeisterung und idiosynkrasie. erstaunlich ist auch, wie lange diese gespanntheit zwischen dieser genervtheit und großen faszination anhalten kann, und schließlich nur letzterer zuarbeitet.

„in widersprüche hineinbewegen“, das korrespondiert jedenfalls mit seinem ästhetischen konzept, auch mit jenem programm der realistischen methode, die er mitte der 70er-jahre in programmatischen texten veröffentlicht hat [2]. die realistische methode, das könnte durchaus faszinierend sein in zeiten, die sich einerseits durch das gefühl eines gewaltigen realitätsverlusts und dem daraus resultierenden hunger nach dem „wirklichen leben“ auszeichnen. ein irrsinnshunger muss das sein, blickt man auf die doku-soaps, die jetzt überall in unserer lieben fernsehlandschaft entstehen. doch was geschieht darin? man sieht menschen, die sich selbst spielen müssen und zwar nach einem drehbuch, das sie in kommerzieller fernsehformate und handlungsschemata einpasst, sie so ihrer authentizität enteignet, man könnte sagen: das letzte hemd.

aber was meint kluge mit „realistischer methode“? und was sind wirklichkeitsblöcke? und was ist mit antirealismus und einem „konzentrat von verstößen gegen den angeblichen realismus des gewohnheitsblicks“ [3]gemeint? zunächst muss man realität als ein feld begreifen, das durch fakten und wünsche gleichermaßen bestimmt ist, sozusagen das gesellschaftlich imaginäre als gleichwertigen teil der realität sehen und dann verstehen: „das motiv für realismus ist nie bestätigung der wirklichkeit, sondern protest.“ [4]dazu komme, dass nicht nur die realität antagonistisch sei, sondern auch die menschliche verarbeitungsweise von dieser. in der realistischen methode ginge es zunächst darum, ein unterscheidungsvermögen zu entwickeln.

„unterscheidungsvermögen“ ist eines der hauptvokabeln kluges, neben „konstellation“, „nahtstelle“, „erfahrungszusammenhang“, „zeitnischen“ und „wünsche“ oder „eingemachte elefantenwünsche“. durch all seine arbeiten, seien es texte, filme, gespräche, zieht sich dieses produktionsverständnis von gesellschaftlicher wirklichkeit. es hilft nichts, und wenn es noch so nervt: kluge ist eben mit möglichkeitssinn [5]ausgestattet, und zwar mit einem, der anstecken muss. wenn er godard in einem interview in seinem kulturmagazin „10 vor 11“ [6]danach fragt, ob er sich vorstellen könne, dass die wiedervereinigung auch zwischen der ddr und frankreich hätte stattgefunden haben können, dann sagt godard natürlich: pourquoi non. und wer kann sich auch fragen entziehen, die den besuch von außerirdischen einkalkulieren, „wie es voltaire beschrieben hat“, oder den eigenen marsbesuch „im moment der gefahr“?

man kann sich jedenfalls nie sicher sein, einen kluge-film ganz gesehen zu haben. die zusammenhänge stehen nicht fest, sie stellen sich immer neu her, kluge hat da ein ganz emphatisches verständis von wahrnehmung. er bezieht sich auf das marx’sche verständnis der sinnlichen wahrnehmung als grundlage jeglicher wissenschaft und versteht den kinobesucher als mitarbeiter des films, eine imaginäre mitarbeit, die die filmische apparatur durch den ihr inhärenten anteil des schwarzfilms miterzeugt: „das auge sieht 1/48 sekunde nach außen und 1/48 sekunde nach innen.“ und „unser menschliches auge … bildet sich ein, etwas kontinuierliches zu sehen, hat aber im hirn die pause, etwas eigenes zu denken. ich habe den eindruck, dass transzendenz im kino technisch hergestellt ist.“

diese dialektische verbindung von subjektivem und objektivem, imaginärem und stofflich-technischem führt notgedrungen zur „liste des unverfilmten“ („das nichtverfilmte kritisiert das verfilmte“) und zu büchern wie dem ersten imaginären opernführer, der in diesem jahr erschienen ist (verlag vorwerk [8].

dass die wirkliche qualität eines autors mehr in der aufmerksamkeit, im finden liege, als in der so genannten eigenen formalen gestaltung, darüber ließe sich auch in bezug auf seine literarischen produktion (zum beispiel bei der „chronik der gefühle“) [7]gut streiten. denn zwar tritt kluge hier wieder einem als autor entgegen, der sich in ständiger auseinandersetzung mit stoffen, materialien befindet, doch was ist nicht formal, wenn nicht gerade die zusammenstellung, die diese riesencollage seiner textproduktion aus vierzig jahren, in der sich anekdotisches neben dialogischem findet, wissenschaftliches neben assoziativem, oder analogieschlüsse, oftmals vermittelt durch ein bild, einem inneren oder einem äußeren.

ist die frage nicht formal, wie wir geschichten erzählen? „in jedem sind viele erfahrungsklassen und redesorten vereinigt.“ und ist sie nicht formal, wie wir sie hören. mündlichkeit gilt ihm als ausdrucksform der unmittelbaren erfahrung, doch ist diese mündlichkeit, denen kluges texte verpflichtet sind, literarisch nicht hochgradig stilsiert? jedenfalls kann man ihm diesbezüglich nur zustimmen: „wir unterschätzen in unserer schreib- und telekultur, wie sehr wir vom grundstrom der mündlichkeit abhängen.“

aber umgekehrt stellt sich mir die frage, wie viel die aussagen, dialoge in seinen filmen mit mündlichkeit zu tun haben. da gibt es sätze, die bleiben hängen: „mein gefährte studiert marx im original.“ oder: „ich heiße inge maier. ich bin beischlafdiebin. aus meiner langjährigen erfahrung weiß ich: was die männer versprechen, erweist sich nachträglich immer als zu wenig. für dieses defizit nehme ich ihre brieftasche an mich. das macht mich nicht glücklich, aber ich komme auf meine kosten.“

diese filme heißen dann „in gefahr und größter not, bringt der mittelweg den tod“ oder „der angriff der gegenwart auf die übrige zeit“. geniale titel. wie überhaupt kluge äußerstes titeltalent zuzusprechen ist. (8)

aber was ist überhaupt ein kluge-film? das ist nicht einfach zu beantworten. irgendwie ein klassiker: weiße schrift auf blauem grund. dann meist ein panoramatischer anfang. ein städteanfang. oder ein wolkenhimmel, sternenkonstellationen. musik. etwas ouvertürenhaftes. („oft beginnen die bilder sich erst aufgrund der musik so zu bewegen, wie sie gemeint sind.“) und meist ist’s dann auch noch frankfurt. es gibt zwischentitel, es gibt seine stimme. sie kommentiert, sie beschreibt, sie ist eine gegenkraft, eine komische dissonanz. nicht selten ist auch ein mond zu sehen – ein romantisches motiv? „die gesellschaft ist in bewegung, der mond verändert sich nicht.“ so eine der typischen kluge-antworten darauf.

es gibt seine figuren, die melancholische figuren sind wie „der starke ferdinand“, herr rieche. aber auch figuren wie knautsch-betty, gabi teichert, anita g. oder leni peickert, eigensinnige frauen, sich widersetzende. dazu die reihe der weggeworfenen geliebten und weggeworfenen arbeitskräfte.

all die misslingenden tauschverhältnisse, die auch diese komik miterzeugen, eine komik, die einen in die situationen hineinbewegt. oftmals verbunden mit einem trockenen humor, zum beispiel in dieser szene im „angriff der gegenwart auf die übrige zeit“, in der kluge eine kleinfamilie vor einen computer platziert und diesen heimarbeitszirkus schon mitte der 80er-jahre folgendermaßen kommentiert: „es ist ein irrtum, dass neue medien mit unterhaltung zu tun haben. sie sind eine neue industrie: die familie burg vor ihrem computer.“

und dann hat man nicht nur wieder diese kluge-stimme im ohr, man hat auch das aggressive geräusch des druckers, das zunächst durch die stieren blicke der familienleute fährt, und danach durch unsere, bis nichts mehr davon übrig bleibt.

misslingende tauschverhältnisse aber auch in der produktion von öffentlichkeit. in seinen kinofilmen gibt es eigentlich nur interviews, die schief gehen, man könnte sagen anti-dialoge, nicht funktionierende gespräche, wie das gespräch des radio-reportes mit dr. von gerlach zu beginn des films „der angriff der gegenwart auf die übrige zeit“. der reporter: „dr. von gerlach, sie brachten gestern in ihrer talkshow diesen interessanten vergleich“ – g: „welchen?“ – r: „können sie diesen vergleich für unsere zuhörer nochmals wiederholen?“ – g: „ich mache mehrere vergleiche.“ – r: „ich meine diesen einen.“ – g: „aber welchen?“ – r: „sie wissen schon.“ – g: „ich sage doch in einer talkshow nicht nur einen satz!“ – r: „es war kein satz, es war eine zahlenangabe.“ – g: „zahlenangabe?“ – r: „es ist mir aufgefallen.“ – g: „sie haben es sich aber nicht gemerkt.“ – r: „sagen wir mal: ich kann es nicht wiederholen.“ usw. usf.

die scheinbare absurdität seiner filmdialoge bildet einen wohltuenden kontrast zu all den geglätteten gesprächen, die wir in unserer lieben medienwelt, ehem. „bewusstseinsindustrie“, nicht mehr kennen, die aber eigentlich erwartbar wären. die frage müsste man sich doch permanent stellen: warum scheinen die tv-gespräche immer glatt zu gehen. warum sprechen menschen vor laufender kamera immer so miteinander, als würden sie das können, als verstünde man sich von anfang an, als gäbe es so etwas von vorneherein: eine gemeinsame basis.

von der industrialisierung des bewusstseins und von den bewaffnungen dagegen sprechen kluges arbeiten in durchaus positiver manier. „was hält freiwillige taten zusammen?“ eine bewaffnung wäre wohl der „eigensinn“: „die menschlichen eigenschaften entstehen aus trennungsprozessen, und sie sind bewaffnet mit eigensinn, der sich gegen die trennung wehrt.“ so schreibt er zusammen mit oskar negt im vorwort von „geschichte und eigensinn“ [9].

das kann situationistische züge bekommen: der versuch, die trennungen der bürgerlichen öffentlichkeit und die industrialisierung des bewusstseins zu unterlaufen, ob er das in der tradition des autorenfilms in seinen kinoarbeiten macht oder in seinen fernseharbeiten. aber er versteht das nicht nur inhaltlich-formal, sondern auch auf der ebene eines medienpolitischen engagements, das uns nicht nur einfach mehrere kulturfenster im privatfernsehen beschert hat, sondern weiter reichende folgen hat.

von so vielen seiten muss man kommen, so viele seiten fallen einem gleichzeitig ein, wenn man an alexander kluges arbeit denkt: medienpolitische, die filmische, die theoretische, die literarische. er selbst sagt in einem gespräch, dass er sich primär als autor verstünde: „nur wenn ich ein buch schreibe, in meinem eigentlichen medium, bin ich unbewaffnet im umgang mit dem, was mich interessiert.“ [10]

was genau er damit meint, bleibt im unklaren. man könnte ihn fragen. so als postindustrieller prototyp möglicherweise. aber dann würde er wahrscheinlich mit seiner stimme antworten, und die ist unheimlich, das weiß jeder.

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