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Alle bereit zum Ausstieg

Weil die Parteien bei der Zuwanderung nicht weiterkommen, streiten sie mit Genuss über die Äußerungen von SPD-Fraktionsvize Stiegler zur Nazizeit. In der verfahrenen Situation wird die Verschiebung des Gesetzes wahrscheinlicher

von LUKAS WALLRAFF

In der Politik geht es zu wie im echten Leben. Wenn man sich über inhaltliche Fragen partout nicht einigen kann, begibt man sich auf Nebenkriegsschauplätze und verheddert sich in persönlichen Streitereien, die mit dem eigentlichen Thema nichts zu tun haben. Selten wurde das so deutlich vorgeführt wie jetzt bei den Verhandlungen über das geplante Zuwanderungsgesetz. Nachdem sich Rot-Grün und die Union monatelang wegen unzähliger Details beharkt hatten, wird nun alles überlagert von einer einzigen Äußerung des stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Ludwig Stiegler vom vergangenen Wochenende.

Stiegler hatte nicht etwa über das Zukunftsthema Zuwanderung gesprochen, sondern über die Machtergreifung Adolf Hitlers und die unrühmliche Rolle der „Vorläuferparteien“ von CDU und CSU in der Weimarer Republik. Also über die Vergangenheit. Aber das macht nichts. Die Union gibt sich schwer beleidigt und droht mit einem Abbruch aller weiteren Zuwanderungsgespräche. Vor dem gestrigen Strategietreffen der Unions-Spitze in Berlin sagte Fraktionsvize Wolfgang Bosbach der taz: „Was Herr Stiegler gesagt hat, ist so etwas von absurd und diffamierend, dass er nicht ernsthaft erwarten kann, dass wir einfach zur politischen Tagesordnung übergehen.“ Für ihn stehe fest, dass er ohne eine angemessene Entschuldigung Stieglers nicht mehr zu den Verhandlungen mit der SPD erscheinen werde: „Wenn Herr Stiegler da sitzt, sitze ich da nicht.“ Zu den Vorhaltungen aus der rot-grünen Koalition, die Union suche nur nach einem weiteren Vorwand, um das Zuwanderungsgesetz zu blockieren, sagte Bosbach: „Also, Entschuldigung! Was sollen wir uns denn sonst noch alles bieten lassen, bevor wir mal Wirkung zeigen?“ Es handele sich schließlich nicht um Stiegler-Gespräche, sondern um Zuwanderungs-Gespräche, „an denen Herr Stiegler ja nicht teilnehmen muss“.

Stiegler freilich war bisher wichtigster Verhandlungsführer der SPD bei den Zuwanderungsgesprächen. Also müssen sich die Sozialdemokraten überlegen, ob sie Stiegler zu einer Entschuldigung drängen oder wirklich ohne ihn zu den Verhandlungen kommen. Danach sieht es nicht aus. Intern äußern sich einige Parteifreunde zwar verärgert über den verbalen „Wiederholungstäter“ Stiegler. Öffentlich aber stellen sich seine Genossen hinter ihn. Fast scheint es, als ob es auch der SPD nicht ungelegen käme, eine Gelegenheit zu finden, das Projekt Zuwanderung beerdigen zu können, weil es in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und im aufziehenden Wahlkampf auch bei der eigenen Klientel schwer vermittelbar ist.

Ganz abwegig ist es deshalb nicht, wenn Bosbach sagt: „Die SPD will uns offensichtlich provozieren.“ Innenminister Otto Schily jedenfalls amüsiert sich über „die Gekränktheit“ der Union und weist darauf hin, gerade Bosbach, der ihn in Sachen NPD der Lüge bezichtigt habe, habe selbst Anlass, „in Schutt und Asche zu gehen“. SPD-Fraktionschef Peter Struck legte gestern sogar nach: „Es muss ja wohl noch erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass auch die CDU, selbst wenn sie nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, mit ehemaligen Nazis belastet war“.

Angesichts des Schlagabtauschs zwischen SPD und Union wird es immer verständlicher, dass die Ausländerbeauftragte Marieluise Beck erst mal eine „Auszeit“ fordert. Von den Inhalten spricht ohnehin niemand mehr. Oder doch? Mitten im Wirrwarr um Stiegler meldete sich gestern die menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen, Christa Nickels, zu Wort. Die Grünen seien mit ihren Zugeständnissen „am Ende der Fahnenstange“, sagte Nickels. Wenn die Union auf weiteren Verschlechterungen für Flüchtlinge beharre, „dann machen wir lieber kein Gesetz und gehen ehrlich in den Wahlkampf“.

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