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Ausgesetzt werden

■ Schüler als Ausführende: Staatsoper startet mit Henzes „Pollicino“ eine Kinderopernreihe auf Kampnagel

Die Hamburgische Staatsoper hat sich der Aufgabe angenommen, junge Klassikfans für das zeitgenössische Musiktheater zu gewinnen. Den Auftakt macht an diesem Wochenende Hans Werner Henzes Kinderoper Pollicino („Däumling“) auf Kampnagel. Das Ungewöhnliche an der Inszenierung ist, dass Kinder und Jugendliche, Hamburger Schüler im Alter von acht bis 15 Jahren, sowohl im Orchester als auch auf der Bühne mitspielen und bei der Gestaltung des Bühnenbildes mitgewirkt haben. Die taz hamburg sprach mit Regisseur Christoph von Bernuth.

taz hamburg: Wie ist das Arbeiten mit den an Pollicinobeteiligten Kindern und Jugendlichen?

Christoph von Bernuth: Na ja, es gibt Tage, an denen es sehr gut läuft, und Tage, an denen es nicht so gut läuft. Das hängt immer davon ab, bis wann die Schüler in der Schule waren und wie kaputt und müde sie sind. Es gibt viele Momente, in denen es erst einmal darum geht, die unruhigen oder überdrehten Kinder zu mehr Aufmerksamkeit zu bringen.

Sind die SchülerInnen denn nicht durch die außergewöhnliche Situation einer Opernproduktion an sich motiviert?

Natürlich. Immer, wenn wir etwas Neues proben, mit neuen Bühnenelementen oder neuen Szenen. Aber nach vier Monaten auf der Probebühne ist vieles von dem, was wir machen, nichts Besonderes mehr. Die Kinder kommen hierher und wollen sich amüsieren, aber ihnen ist nicht klar, daß Probenarbeit in erster Linie eben Arbeit bedeutet. Wenn diese Arbeit dann Spaß macht, umso besser. Bis es auf der Bühne dann so gut und natürlich kommt, wie wir es uns wünschen, ist eine enorme Knochenarbeit nötig.

Inwieweit erwarten Sie bei der Arbeit Professionalität?

Die darstellerische und stimmliche Messlatte liegt hier naturgemäß niedriger als bei einer Erwachsenenproduktion. Professionalität meint ja nicht nur das Resultat, sondern auch die regelmäßige Anwesenheit bei den Proben, Pünktlichkeit, Konzentration und Kreativität. Ich bin aber mit den Kindern ein gutes Stück weggekommen vom Dilettantismus, den ich auf keinen Fall akzeptieren könnte.

Von den Eltern ausgesetzt, allein und verloren im Wald, vom Menschenfresser bedroht – können sich Ihre Akteure mit der Handlung von Pollicino identifizieren?

Ich glaube schon. Wenn man – es ist eigentlich schockierend – hier Kampnagel durch die Hintertür verlässt, dann stehen da Wohnwagen, in denen Menschen wohnen. Ich habe mich gefragt, wo wohnen Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Oft in solchen Campingwagen, häufig an einem Waldrand, oder – wie in Hamburg – auf Containerschiffen. Und der Holzfäller mit seiner Familie in Pollicino, die leben auch in einem Haus am Waldrand.

Für wen also ist das Ausgesetztwerden heute reale Welt, und wie sollen sich Kinder damit identifizieren – oder geht es einfach darum, ein Abenteuer zu bestehen?

Aussetzen meint ja nicht nur das wirkliche Sitzenlassen von Kindern, sondern auch die immer trostloser werdenden Beziehungen zwischen Eltern und Kindern beziehungsweise Vater und Mutter, die sich und den Kindern nichts mehr zu sagen und nichts zu bieten haben. Pollicino und seine Brüder leben in einem hermetisch von der Außenwelt abgegrenzten Raum, der gleichzeitig ihr Zuhause und Gefängnis ist, aus dem sie nicht ausbrechen können. Der Fernseher ist das einzige Fenster zur schönen bunten und scheinbar heilen Außenwelt. Das Ausgesetztwerden der Kinder ist von daher auch eine Chance, ihrem Elend zu entkommen. Das Abenteuer, das die Kinder dann bestehen müssen, meint auch das Sichlösen von den Eltern, das Erwachsenwerden, das immer mit der Suche nach Unabhängigkeit einhergeht. Ob die Kinder dieses Abenteuer wirklich bestehen, lässt Henze offen: Pollicino hat kein Ende. Weder musikalisch noch dramaturgisch.

Interview: Christian T. Schön

Premiere: Sonntag, 19 Uhr, Kampnagel; weitere Vorstellungen: 19., 21., 26. + 28.2., 19 Uhr; 23./24.2., 17 Uhr (mit anschließendem Gespräch)

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