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Land in Sicht

Peter Niemann freut sich immer auf den Landgang. Denn jedes Mal wartet auf den Seemann in den Häfen dieser Welt ein taz-Paket. „Für die langen einsamen Abende auf See“, sagt der Berliner

von THILO KUNZEMANN

Der Seebär steht auf dem Balkon seiner Dachgeschosswohnung im Berliner Stadtteil Pankow, raucht eine asiatische Zigarette und guckt auf sein Viertel. „Ein Haus fehlt noch, dann ist die Straße saniert“, sagt er leise und etwas ungläubig. Wenn man lange unterwegs ist, verändert sich die Heimat unbemerkt. Vielleicht erklärt das, warum Peter Niemann die taz abonniert, die – wenn er sie liest – längst nicht mehr aktuell ist. „Manchmal geht etwas beim Zoll schief und die taz-Ausgaben kommen ein viertel Jahr zu spät.“

Nach acht Monaten an Bord der MSC Ibn Sina hat Niemann Urlaub und jeden Morgen eine frische Frühstücks-taz. Er lernt für die Fahrschulprüfung, geht zum Zahnarzt und ab und an ins Kino. Manchmal langweilt er sich ein wenig. Weg will er trotzdem nicht. Kein Seemannsfernweh. „Büschen allein, aber kuschelig meine Wohnung.“ Dafür sind in Berlin ja auch Freunde und Familie „bei“. Sein norddeutscher Akzent täuscht, Niemann ist Berliner. Geboren im brandenburgischen Bad Saarow, aufgewachsen in Pankow und Friedrichshain. Das „büschen“ Platt hat er sich während seiner Lehre bei der ostdeutschen Staatsreederei DSR angewöhnt.

Heute fährt der 33-jährige Maschinenbauingenieur auf den Frachtschiffen der Niederelbe Schifffahrtsgesellschaft (NSB). Statt auf sozialistischen Kurs Richtung Murmansk schicken ihn seine Arbeitgeber über die Weltmeere. Für „die langen einsamen Abende“ auf See hat er die taz abonniert. Alle ein, zwei Wochen werden die letzten Ausgaben in einen großen Umschlag gesteckt und in den nächsten Hafen auf seiner langen Reiseroute geschickt. Die Langeweile macht Niemann zum perfekten Abonennten. „Ich lese jede Ausgabe von vorne bis hinten.“

Seit Weihnachten stapeln sich die Ausgaben nun wieder in seinem Pankower Badezimmer. Und Niemann beschäftigt sich so gut er kann, versucht das Meer nicht zu vermissen. „Die Weite, der Himmel und das alles“, sagt er und findet keine passenden Worte. Also zeigt er sein digitales Fotoalbum: Sonnenuntergänge in allen Variationen, verschwommene Polarlichter, Aufnahmen einer riesigen Sturmwalze über bleierner See. Er beginnt zu erzählen. Von Buckelwalen und Hammerhaien, den ruhigen Tagen, an denen die Maschinen stoppen und das Schiff dahin treibt.

„Ich wusste schon als Kind, dass ich auf See arbeiten will.“ Nach der zehnten Klasse verzichtete er auf das Abitur und fuhr als Facharbeiter über die Ostsee: Rostock, Murmansk und zurück. „Kalt war es. Aber bis auf die Polarlichter ziemlich unspektakulär.“ Nach einer Zwangspause bei der Nationalen Volksarmee heuerte er auf einem Kali-Frachter der DSR an. Seine erste Fahrt nach dem Zusammenbruch der DDR führte durch den Suezkanal in Richtung Madras, Indien.

„Wichtigstes Bordutensil für die Fahrt durch den Marlborograben sind etliche Stangen Zigaretten. Aber keine Camel, die sehen den Leuten zu arabisch aus.“ Je nach Dienstgrad und Einfluss erhalten die Lotsen der Kanalgesellschaft ihre Nikotinration. „Alles schon im Budget eingeplant.“ Seefahrer, die die Zigaretten selber rauchten, würden einen Tag länger auf die Abfertigung warten, sagt Niemann. Auch die italienischen Zöllner kontrollieren lieber einmal zu viel, als auf eine Flasche Whisky und ein, zwei Stangen Zigaretten zu verzichten. Jeder, der zur See fährt, wüsste das. Wenn aber Seepiraten das Schiff entern, helfen auch Zigaretten nicht weiter.

Berüchtigt für Überfälle ist beispielsweise die Malakkastraße, die meist befahrene Wasserstraße der Erde. Wer wie Niemann an Bord seines Kalifrachters nach der Zigarettenübergabe im Suezkanal weiter Richtung Indischer Ozean und China fährt, muss diese Meerenge zwischen Thailand und Indonesien durchqueren. „Manche Kapitäne schalten hier nachts alle Lichter aus, um von den Piraten nicht entdeckt zu werden. Andere beleuchten alles taghell, um sich nicht überraschen zu lassen.“

Denn die Freibeuter kommen im Schutz der Dunkelheit. Wie vor hunderten von Jahren werfen sie ihre Enterhaken über die Reling, leeren die Bordkasse und stehlen Bargeld und Wertsachen der Crew. In seltenen Fällen wird die Mannschaft in Rettungsbooten oder auf kleinen Inseln ausgesetzt. „Bisher ist mir das Gott sei dank nicht passiert“, sagt Niemann und klopft mit den Fingerknöcheln auf seinem Kopf herum – „auf Holz: Toi, toi, toi.“

Für die DSR fährt er trotzdem nicht mehr. Die größte deutsche Reederei kenterte im rauhen Wendewind. Die Treuhand übernahm den maroden Staatsbetrieb und verkaufte ihn Schiff für Schiff an andere Reedereien. Die neuen Eigner verschrotteten die „alten Kähne“ und schafften sich die unliebsame Konkurrenz vom Hals. Niemann verlor seinen Job.

Dass er nach Umschulung und Studium heute zum zweitwichtigsten Ingenieur an Bord der NSB-Schiffe aufgestiegen ist, verdankt er wohl nicht zuletzt seiner Hartnäckigkeit. Egal ob in der Schlange vor dem Arbeitsamt oder als Zugbegleiter bei der Bahntochter Mitropa, er zweifelte nie daran, wieder zur See zu fahren. „Gut ausgebildete Seefahrer werden immer gesucht.“ Der Trend, sagt er, gehe endlich weg von billigen aber schlecht ausgebildeten Mannschaften, die auf alten Rostkähnen immer knapp an der nächsten Havarie vorbeisteuerten.

Nur die Mädchen bereiten ihm noch Kopfzerbrechen. „Von 14.500 Seeleuten in Deutschland sind bestimmt nicht mehr als 40 Frauen.“ Wo aber lernt man eine nette Frau kennen, wenn man die ganze Zeit an Bord ist? Die taz sollte helfen. Bisher meldete sich aber nur eine Interessentin auf seine Kontaktanzeige. „Das war leider nichts.“ Vielleicht braucht die taz einfach ein paar Leserinnen mehr. Dann müsste auch Peter Niemann nicht mehr allein auf seiner Dachterrasse rauchen. Und langweilig wären die Landgänge auch nicht mehr.

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