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Siedlungen sind Krebsgeschwür

Der Israeli Zeev Avrahmi will nicht nur den Militärdienst in den palästinensischen Gebieten verweigern. Er will sein Land verlassen, sollte die Besatzung andauern

Immer mehr Leute, die schon zu viele Araber getötet und deren Land besetzt haben, sagen jetzt: Es reicht!

Ich habe meinen Namen nicht unter die Petition gesetzt, die dutzende von israelischen Soldaten in den letzten Wochen unterzeichnet haben, aber das brauche ich auch nicht: Ich werde nicht wieder in den besetzten Gebieten dienen, weil ich mich entschieden habe, noch nicht einmal mehr in Israel zu leben, solange es diese Gebiete behält.

Es gibt Mythen, die einem in Fleisch und Blut übergehen, wenn man als israelisches Kind aufwächst, und kein Mythos ist tiefer verwurzelt als der Begriff „nie wieder“. Es wird keinen „zweiten Holocaust“ geben, solange wir wachsam sind.

Diese Überzeugung hat dazu geführt, dass Israel eine der stärksten Armeen der Welt aufgebaut hat. Aufgrund dieser Überzeugung hat Israel auch bereits sehr früh mit seinem Atomprogramm begonnen. Hitler war der Grund dafür, dass wir die Idee von der eisernen Mauer hatten: Israel wird niemals verhandeln außer von der Position der militärischen Überlegenheit aus.

Hitler ist nie gestorben. Er hat nur die Uniform und die Ethnizität gewechselt. Jetzt ist er ein Araber. Und er will uns immer noch vernichten.

In einer solchen Atmosphäre sind wir aufgewachsen. Wir bewunderten die Soldaten und machten sie begeistert zu unseren Vorbildern. Zu Purim, dem jüdischen Faschingsfest, verkleideten wir uns als Soldaten. Die meisten von uns konnten kaum erwarten, 18 Jahre alt zu werden, ein Gewehr zu bekommen und uns der Mission anzuschließen.

Aber das, was damals in den frühen Jahren des Staates Israel richtig war, ist heute nicht mehr richtig.

Für zu viele von uns, die nach 1982 eingezogen wurden, verkörpert die Armee jetzt die Enttäuschung einer Generation über Israel. Unsere Eltern sagten uns, wir würden unseren Staat verteidigen, unser Land. Stattdessen wurden wir zu Invasoren, und wir hielten eine Besatzung aufrecht. Wir, die nach 1960 geboren wurden, sollten in Gebieten dienen und diese schützen, in denen wir von vornherein gar nicht hätten sein sollen. Zu viele von uns haben im Libanon gekämpft, wir haben unseren Glauben verloren, unsere Unschuld, und unsere Freunde.

Diejenigen von uns, die als Besatzer in den „besetzten Gebieten“ waren, erlebten einen noch größeren Schock. Unsere Aktionen ließen uns verwirrt darüber zurück, wer wirklich die bad guys waren. Wir dachten, wir würden unser Land vor diesen neuen Nazis schützen. Stattdessen kamen viele von uns nach Hause und fragten sich, ob wir die neuen Nazis, die Besatzer, geworden sind.

Man kann vieles über Ehud Barak (den ehemaligen Ministerpräsidenten, d. Red.) sagen, und das meiste davon ist schlecht. Vom ersten Tag an, an dem er die Uniform anzog, dachte er, er sei der General. Aber im Spiegel der Zeit wird man sich an Barak als einen echten Revolutionär erinnern. Er zog die Armee aus dem Libanon zurück, und er setzte die entscheidenden Fragen auf die israelische Tagesordnung: den Status von Jerusalem und die Frage der Rückkehr der (palästinensischen, d. Red.) Flüchtlinge. Wo Jitzhak Rabin (ermordeter Ministerpräsident, d. Red.) mit Details herumgespielt hat, widmete Barak sich der endgültigen Lösung des Konflikts.

Was seitdem geschehen ist, hat Israel verwirrt und seinen linken Flügel in Fragmente zerfallen lassen, die kleiner sind als die Buchstaben, die Sie jetzt lesen. Die Aussage, dass wir den Palästinensern so viel wie irgend möglich angeboten und sie dennoch nicht zufriedengestellt hätten, hat kritische israelische Soldaten dazu veranlasst, den Frieden im Innern zu suchen und nicht durch diplomatische Vermittlungsbemühungen an exotischen Plätzen.

Dafür muss Israel sich der wichtigsten Frage eines jeden Landes stellen, nämlich nach der Definition seiner endgültigen Grenzen. So gesehen sind die Siedlungen in den besetzten Gebieten für Israel Krebsgeschwüre, die in einem anderen Rhythmus funktionieren als der restliche Körper.

Viele von uns haben sich gefragt, ob nicht wir die neuen Nazis, die Besatzer geworden sind

Kürzlich haben über zweihundert Soldaten eine Petition unterzeichnet. Darin erklären sie, dass sie künftig einen Einsatz in den besetzten Gebieten verweigern würden. Einige von ihnen sind schon ins Gefängnis gesteckt worden. Immer mehr Leute, die schon zu viele Araber getötet und deren Land besetzt haben, mich eingeschlossen, sagen jetzt: Es reicht! Immer mehr von uns können keine Logik darin erkennen, dass wir kämpfen und töten, um eine Siedlung von drei Familien mitten unter einer palästinensischen Bevölkerung zu verteidigen. Auch will niemand einen neuen Krieg wie im Libanon, der Israel seinen Stempel aufgedrückt hat. Immer mehr Leute beginnen, aktiv zu werden.

Jeden Sommer geben die Sprecher der israelischen Armee gern bekannt, dass die Bereitschaft, in Kampfeinheiten zu dienen, höher sei als je zuvor. In Wahrheit ist die Zahl derer, die mit 18 Jahren in die Armee gehen, in den vergangenen fünfzehn Jahren aber um acht Prozent gefallen. Für israelische Maßstäbe ist das ein erstaunlicher Rückgang. Viele von denen, die sich entschieden haben, nicht zu dienen, erklären sich für geistig gestört. Die Petition der Soldaten drückt noch etwas Überraschendes aus: dass es normal ist, zu verweigern.

Israel erlebt heute eine schwierige Zeit. Es braucht neue Führer, aber keine aus den Rängen der Armee. Diese Führer haben bewiesen, dass sie unfähig sind, sich von Kämpfern in Friedensmacher zu wandeln. Israel braucht Führer, die sagen, dass es zu viele innere soziale Probleme gibt, um auf fremden Schlachtfeldern zu kämpfen. Es braucht Leute, die keine Angst haben, alles zu verlieren, wenn sie sich an ihre eigenen Prinzipien halten. Es braucht jemanden, den wir uns in dreißig Jahren ansehen können, den wir umarmen können und zu dem wir sagen können, er hatte ja so Recht.

ZEEV AVRAHMI

Fotohinweis:Der Autor wurde 1969 im damals israelischen Yammit auf der Sinai-Halbinsel geboren, das er nach dem israelisch-ägyptischen Friedensvertrag 1982 verließ. Von 1987 bis 1990 diente er in der Armee. Seit 1996 arbeitet er als Journalist.

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