: „Es fehlt eine Leitidee für morgen“
Wer spricht die Wähler der „Mitte“ mehr an – Unionsparteien oder SPD? Der Parteienforscher Franz Walter sieht nur noch kleine Unterschiede
taz: Herr Walter, in der „Mitte“ wird es eng. Die SPD macht eine „Politik der Mitte“ und die CDU will einen „Wettbewerb um die Mitte“ führen. Was unterscheidet die Volksparteien?
Franz Walter: Wirtschaftspolitisch eigentlich wenig. Das ist aber nicht neu, das ist seit den frühen 60er-Jahren so.
Welchen Grund gibt es dann, Rot-Grün zu wählen?
Das fragen sich die Anhänger offensichtlich auch. Momentan ist die Parteibasis demotiviert. Viele wissen nicht, warum sie noch mit einem Tapeziertisch in der Innenstadt stehen sollen.
Wie soll die Basis denn aufgerüttelt werden? Den neuen Sparkurs von Eichel finden auch Unionswähler richtig.
In der Wirtschafts- und Finanzpolitik kann sich Rot-Grün tatsächlich schwer profilieren. Es ist ein Problem der Regierungsparteien, dass sie bisher keine Sprache dafür gefunden haben, was in den nächsten Jahren noch „gestaltet“ werden kann. Daher erscheinen sie so ziellos, ohne Leitidee für morgen.
Wo soll denn die Gestaltungsidee herkommen?
Die Koalition muss ausgerechnet auf die „weichen“ Themen setzen, die der Kanzler jahrelang als „Gedöns“ bezeichnet hat. Etwa die Defizite in der Bildung. Dafür interessiert sich die „neue Mitte“. Denn es ist eine „Aufstiegsmitte“. Die Bildungsrevolution hat aus Arbeiterkindern Akademiker gemacht. Keiner von ihnen hat die lebensgeschichtliche Erfahrung vergessen, wie wichtig Bildung ist, um in Hierarchien aufzusteigen und den Status quo auch für die Nachkommen zu sichern.
Aber die Union setzt auch auf Bildung. Stoiber wirbt mit dem Wissenschaftsstandort Bayern.
Es wird eben schwer für Rot-Grün. Besser dürften die Chancen bei der Familienpolitik sein. „Mitte“ meint ja auch jene, die in der Mitte des Lebens stehen. Und Rot-Grün hat bei den 30- bis 50-Jährigen ihre Kernanhängerschaft. Dass ihre Wähler in der Familienphase sind – das ist bei SPD und Grünen allerdings erst vor kurzem angekommen.
Wieso sollte man ihnen dann glauben? Die Union redet doch seit Jahrzehnten von Familie.
Rot-Grün steht trotzdem für modernere Konzepte. Die „neue Mitte“ ist sehr stark durch ein kulturelles Lebensgefühl geprägt – und dazu gehört, dass allein Erziehende oder auch Homoehen als gleichwertig akzeptiert werden. Im übrigen traut man SPD und Grünen einfach eher zu, die Kombination von Beruf und Familie zu erleichtern. Allerdings dürfte die Union ihr Familienbild demnächst erneuern. Denn auch die Töchter des Bürgertums bleiben nicht am Herd. Aber im Wahlkampf 2002 wird das der Union nichts nutzen.
Es fällt auf, dass die SPD wie 1998 auf die „neue Mitte“ zielt – sie aber nur noch „Mitte“ nennt.
Der SPD ist ein dummer Marketingfehler unterlaufen. Eigentlich hatte „neue Mitte“ Charme – das klang dynamisch. Doch kam dieses „neu“ so an, als wären nur die Start-upper gemeint. Die New Economisten, die mit kalter Verachtung ein Unternehmen gründen und wieder Pleite gehen lassen. Die Jungspunde, die keiner mag, weil sie die Aktien versaut haben. Das hat die Kultur- und Sozialdienstler, die habituell auch zur „neuen Mitte“ gehören, zunehmend verdrossen.
Aber nur „Mitte“ – das klingt wie langweiliger Mittelstand.
Ich bin sicher, dass demnächst ein Attribut wie „modern“ davor geklebt wird, damit es nicht mehr so bräsig wirkt.
Was kommt nach der Wahl, wenn der Wettbewerb um die Mitte entschieden ist?
Das Vernünftigste wäre eine große Koalition. Denn dann könnten endlich die sonst schon institutionell angelegten Blockaden beseitigt werden, die gerade bei den harten Fragen immer wieder auftreten.
Und dann leben wir für immer in einem Reich der Mitte?
Nur die ersten zwei Jahre. Danach würden – wie schon nach der Halbzeit der großen Koalition von Kiesinger – die normativen Grabenkämpfe ausbrechen. Übrigens auch dann, wenn es zu keiner großen Koalition kommt. Wenn die „Mitte“ überfüllt ist, müssen die Parteien unterscheidbar werden. Schröder und Stoiber werden dann die letzten politischen Manager des puren Pragmatismus gewesen sein.
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN
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