Giftskandal im Alten Land

Herbizide sind nachweislich auch im verbotenen Bereich ausgebracht worden Experten befürchten negative Wirkungen auf den menschlichen Organismus

von BERNHARD PÖTTER

Online ist die Welt noch in Ordnung. Dunkelrot und knackig lacht ein Apfel den Internet-Besucher an, friedlich segelt eine Möwe auf den Schriftzug „Elbe-Obst“ hernieder. „Aus Verantwortung gegenüber dem Verbraucher und der Natur“ betreibt man hier „kontrolliert integrierten Anbau“, lautet die Botschaft. Zwar dürften die Obstbauern „zum Schutz der Pflanzen zugelassene nützlings- und gewässerschonende Pflanzenschutzmittel gezielt einsetzen“. Doch „im Zentrum steht der Erzeuger, der die selbst regulierenden Naturkreisläufe beobachtet, nutzt und fördert“.

Offline stehen die Obstbauern vom Alten Land bei Hamburg allerdings ganz woanders – im Zentrum eines neuen Pestizidskandals. Denn bei der Landwirtschaft vor den Toren Hamburgs wird massiv gegen die behördlichen Auflagen zum Umgang mit Giften verstoßen. Das belegen interne Berichte aus dem Pflanzenschutzamt der Landwirtschaftskammer Hannover und des niedersächsischen Landesamtes für Ökologie (NLÖ).

Nach den Untersuchungsberichten, die der taz vorliegen, wenden die Bauern im Alten Land verbotene und nicht genehmigte Pestizide an, missachten bei der Anwendung der Pestizide die vorgeschriebenen Abstände zu den Gewässern, führen nicht wie vorgesehen Buch über ihre Giftspritzereien und setzen vorgeschriebene Techniken nicht ein. Das Resultat: häufige und zum Teil deutliche Überschreitungen bei den Obergrenzen von Pestizidrückständen in den Gewässern. „Pflanzenschutzmittel wurden und werden im Alten Land illegal eingesetzt“, befindet dazu knapp und deutlich das Umweltbundesamt (UBA) in Berlin.

Untersucht wurden die Gewässer im Frühjahr und Sommer 2001 vom NLÖ und vom Pflanzenschutzamt. An mehreren Standorten entnahmen die Wissenschaftler Proben aus dem Boden, dem Wasser und dem Sediment. Besonders krass sind die Ergebnisse bei den Tests im Wasser: Bei 18 Proben wurden etwa 30 Positivbefunde festgestellt. Die Obergrenze von 0,1 Mikrogramm Pestizid pro Liter Wasser wurde fast allerorten überschritten, es fanden sich insgesamt Rückstände von 20 verschiedenen Pestiziden. Besonders gravierend waren die Ergebnisse für die Herbizide Diuron, 2,4-D, Simazin und Chlortoluron (siehe Kasten). Hier liegen die Werte teilweise um das Zehn- bis um mehr als das Hundertfache über den akzeptierten Schwellen. Gespritzt wurde nicht nur zu viel, sondern auch Verbotenes: „Bei zwei Befunden oberhalb der Wirkungsschwelle“, so der Bericht, „handelt es sich um Wirkstoffe, die nicht mehr zugelassen sind (Lenacil) bzw. für den Obstbau nicht vorgesehen sind (Chlortoluron).“ Das UBA geht noch weiter: Die „in überhöhten Konzentrationen nachgewiesenen Wirkstoffe Lenacil, Chlortoluron, Monolinuron und Simazin sind in Deutschland nicht zugelassen – die Befunde deuten auf eine rechtswidrige Anwendung hin“.

Auch bei den Bodenproben stießen die Wissenschaftler auf Beweise für illegales Handeln der Bauern. Sie fanden Rückstände von Herbiziden direkt am Wasser, obwohl das Gesetz einen Abstand von einem bis fünf Metern vorschreibt. Außerdem „weisen drei eindeutige Dichlorprop-Befunde in Pflanzenproben darauf hin, dass von den Mittelvorgaben der Allgemeinverfügung (die den Einsatz reguliert) abgewichen wird“, heißt es. Bei Trinkwasser gilt für Pestizide der Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter. Einen solchen Grenzwert gibt es für Grund- und Oberflächenwasser nicht. Aus Vorsorgegründen aber sollen Pestizide ohnehin nicht ins Wasser gelangen.

Doch nicht nur bei der Wahl der chemischen Keule ignorieren die Bauern nach dem Bericht die verwässerten Auflagen, die vor zwei Jahren noch von Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke extra für sie maßgeschneidert wurden. Auch beim Einsatz von besonderen Düsen, die verhindern sollen, dass die Pestizide weiträumig verteilt werden, „ziehen zahlreiche Bauern offensichtlich die althergebrachten Düsen vor“, monieren die Prüfer. Nach wie vor werde auch zwischen der ersten und zweiten Baumreihe am Ufer gefahren und in Gewässerrichtung gesprüht, erforderliche Umlenkbleche seien oft nicht vorhanden. Die Bauern stellen ihre Düsen auch nicht wie gefordert ab, wenn sie direkt am Ufer das Gift ausbringen, „Vertikalspritzgestänge“, die von den Gräben weg angewandt werden, wurden „bei Praxiseinsätzen nicht angetroffen“, schreiben die Autoren. Bei den Stichproben hätten die Prüfer allein 40-mal gesehen, wie die Herbizide auch im verbotenen Bereich von einem Meter neben den Gewässern ausgebracht wurden. „Das deutet darauf hin“, so der Bericht vorsichtig, „dass hier bei einigen Obstbauern mangelndes Problembewusststein vorherrscht.“

Diese Vermutung wird untermauert durch eine andere Klage der Prüfer: Die Bauern halten sich nicht an die Auflage, ihr Tun zu dokumentieren. Von 99 Betrieben forderten die Kontrolleure die Spritz- und Sprühtagebücher an: „Es wurden lediglich 67 eingesandt.“ Die anderen hätten entweder gar keine Dokumentation, verweigerten die Abgabe oder „meldeten sich überhaupt nicht“. Wer sein Sprühtagebuch abgab, muss deswegen noch lange kein ruhiges Gewissen haben, fanden die Prüfer. Denn von den 67 Betrieben, die ihre Bücher öffneten, listeten 38 Höfe „in 61 Anwendungsfällen Pflanzenschutzmittel auf, die gemäß der Allgemeinverfügung nicht erlaubt sind“.

Trotzdem fordert der Prüfbericht aus Hannover nur sehr vorsichtige Konsequenzen. So wird für eine „Beratungsoffensive“ plädiert, außerdem sollten Bäume in Zukunft mit größerem Abstand zum Wasser gepflanzt werden. „Ermittelte Verstöße werden nachdrücklich zu ahnden sein“, heißt es, ein „Überwachungssachbearbeiter“ solle künftig immer vor Ort sein. Während auf den hinteren Seiten des Berichts die Verstöße moniert werden, bezeichnet die Landwirtschaftskammer im Anfangsteil der Untersuchung die Sonderregelung als „realistisch“, die Wasserorganismen hätten sich „der Bewirtschaftungsform angepasst“, und es gebe „keine toten Gewässer“ im Alten Land. Für eine abschließende Bewertung seien die Daten „nicht ausreichend“.

Das Umweltbundesamt ist ganz anderer Ansicht, schlägt nach Auswertung des Berichts aus Hannover Alarm: Es würden Pflanzenschutzmittel eingesetzt, „die nicht mehr zugelassen, für den Obstanbau nicht vorgesehen bzw. in der regional geltenden Mittelvorgabe untersagt sind“, heißt es in einem UBA-Schreiben. Die Ansicht des Pflanzenschutzamtes, die Bauern würden sich mehrheitlich an die Auflagen halten, könne „nicht nachvollzogen werden“. Ganz im Gegenteil zeigten die Erfahrungen aus dem Alten Land, dass bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln „offensichtlich systematisch gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen wird“.

Heute will das UBA auf einer Sitzung mit den zuständigen Behörden das Thema diskutieren. In der Biologischen Bundesanstalt (BBA) in Braunschweig treffen sich Experten vom UBA, dem Pflanzenschutzamt Hannover und dem Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz. Man wolle den Kollegen aus Hannover auch auf den Zahn fühlen, wie und warum flächendeckend illegale Praktiken überhaupt möglich waren, heißt es.

Überrascht können die Experten allerdings nicht sein. Bereits vor einem Jahr warnte das Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) vor den Konsequenzen dieser Ausnahmeregelung. „Es ist zu befürchten, dass diese Anwendungsregelungen noch weniger kontrollierbar sind als die bisher geltenden pauschalen Auflagen“, schrieben die Pestizidkritiker, die schon lange fordern, illegale Praktiken stärker zu bekämpfen und Alternativen zur chemischen Keule intensiver zu fördern.

Mit Blick auf die Obstbauern bei Hamburg sei die Frage, „wie das, was nicht oder kaum kontrollierbar ist (und daher kaum kontrolliert wird), in der Praxis eingehalten werden soll“.