: Der Herr der Rauchringe
Audienz bei einem Außerirdischen: Ein Outerview mit Lee Perry, dem Hohepriester des Dub-Reggae, der dem Planeten mit „Jamaican E.T.“ eine neue Platte über Liebe und Sonnenschein geschenkt hat
von ULRICH GUTMAIR
„I am a holy man, I am a righteous man. I’m the good brain selecter, I’m the evil brain rejector“, erklärt Lee „Scratch“ Perry selbstbewusst auf seinem eben erschienenen Album „Jamaican E.T.“. Zumindest Interviews mit Perry kommen tatsächlich einer Audienz mit einem heiligen Mann gleich: Es braucht diverse Telefonate mit Plattenfirmenverantwortlichen und einige Überredungskunst gegenüber der Entourage, um nach Backstage vorzudringen, wo man dann doch bereits von Mireille Perry, der Managerin und Ehefrau des Meisters, erwartet wird. Sie weist darauf hin, dass Mr. Perry keineswegs anzufassen sei. Außerdem möge man sich in keinem Fall hinter ihn stellen.
Das sind Formalitäten, denn Respekt wird dem 65-jährigen Mann mit dem grauen Bart und den undurchdringlichen Augen ohnehin gezollt. Als Revolutionär des Aufnahmestudios und Meister der Dub-Version ist Lee Perry das, was man gemeinhin eine lebende Legende nennt. Eine Legende, die ihrem Ruf in jeder Situation gerecht wird, unter anderem durch einen denkbar exzentrischen Bekleidungsstil. Diverse Aufkleber, Medaillen, Amulette an seiner Kleidung lassen Perry wie einen Schamanen aus einer William-Gibson-Story erscheinen. Bereitwillig erklärt er die exakte Bedeutung und Aufgabe seiner Accessoires, die auch als Stichwortgeber im Gespräch dienen. Über seine neue Platte etwa sagt er mit Verweis auf die beeindruckende Zahl von Ringen an seinen Fingern: „Die neue Platte ist mein Sieg. Der Herr der Ringe hat gesiegt. Zwanzig Jahre der Planung und der mentalen Herbeirufung des Herrn der Ringe, damit er sich erhebt und mich vom Bösen, vom Kokain und vom Reggae befreit.“ Frau Perry ergänzt knapp, den Herrn der Ringe müsse man sich bald mit den Kindern im Kino ansehen.
Sklaverei und Scheitern
In der winzigen Garderobe herrscht kaum kontrolliertes Chaos. Ständig kommen und gehen Leute, Perry redet nonstop, macht Witze, lacht, raucht Haschisch, posiert für die Kameras und scheint gleichzeitig zu seinem jeweiligen Gesprächspartner und allen anderen Anwesenden zu reden. Dass er lieber von Outerviews als von Interviews spricht, hat seine Logik: Der Mann erzählt das, was er erzählen will, Fragen werden bestenfalls auf Umwegen beantwortet, sein Redefluss windet sich in Spiralen und transportiert Anekdoten, Wortspiele und Metaphern, die sich aus einem Konglomerat von Quellen aus der Bibel, jamaikanischer Folklore und aus Comics und Filmen speisen.
Es geht dabei immer um die eigene Geschichte von Erfolg und Scheitern, die Geschichte des Verrücktwerdens – als individuelles Abweichen vom rechten Weg und als kollektive Geschichte, vor deren Hintergrund sich die eigene abspielt: Verschleppung, babylonische Gefangenschaft, Sklaverei. „Ich wollte nicht hierher kommen, ich wurde gezwungen, hierher zu kommen. Und ihr sollt wissen, dass alles, was hier passiert, wegen Marcus Garvey passiert“, erklärt er programmatisch gleich am Anfang des Gesprächs, um dann den Fotografen darauf hinzuweisen, er solle doch lieber das Marcus-Garvey-Porträt auf seinem T-Shirt fotografieren, er selbst sei nicht so wichtig.
Studiobrand in der Arche
Gravitationszentrum der Perry’schen Erzählung ist jene Nacht im Jahr 1979, als Perry eigenen Angaben zufolge sein Black Ark Studio niederbrannte, in dem er einige Jahre lang nicht nur zeitlose Reggae-Hits produziert, sondern auch der Idee der Dub-Version völlig neue Aspekte abgewonnen hatte. Die ungezählten Anekdoten, die man im Netz und in Musikmagazinen finden kann, erzählen von einem gegen Ende der Siebzigerjahre immer erratischeren Verhalten Perrys. Manisches Produzieren, Ärger mit lokalen Gangs, zu heftiger Konsum von Alkohol und Ganja und schließlich die daraus resultierende Trennung von seiner damaligen Frau Pauline ließen Perry, der Ende der Sechziger Bob Marley und die Wailers produziert und mit den Upsetters selbst Großbritanniens Charts gestürmt hatte, zum Madman werden. Diesen Ruf pflegt er seither bis hin zur Selbstparodie, wie manche Popjournalisten diagnostizieren.
Im Black Ark Studio hatte Perry sein Konzept von Space Music entwickelt, in dem das Mischpult zum lebendigen, telepathisch gesteuerten Organismus, das Studio selbst zum Raumschiff wird, um sich an bis dahin unbekannte musikalische Orte zu bewegen. Dort schuf Perry minimalistische Musik, die sich durch Lücken, das abrupte Verschwinden und geisterhafte Auftauchen von Sounds, weite Räume und beängstigende Echoeffekte definierte.
Wie war das mit Dub, Mr. Perry? „Ich wollte etwas machen, das niemand auf diesem Planeten tun kann. Also habe ich mich ins All versetzt. Ich habe erklärt, dass ich kein Jamaikaner bin und auch nicht wie ein Jamaikaner denke. Tatsächlich wollte ich sogar sagen, dass ich kein Afrikaner bin, aber Gott sagte mir, das kann ich nicht tun, weil ich ein E.T. bin und weil der Schatten schwarz ist, und von daher komme ich, das sind meine Wurzeln“, erklärt er, zieht an seinem Joint und pustet eine riesige Wolke heiligen Rauchs ins Zimmer.
Perrys Form, zu erzählen, ist ein Musterbeispiel von dropping science, der nonlinearen, multidimensionalen Rede, die keinen Unterschied macht zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, dem Kosmos und dem eigenen Denken. Eine archaische, komplexen Regeln folgende Form des Philosophierens, die mit Tricks und Witzen arbeitet. Perrys jetzt erschienenes Album „Jamaican E.T.“ übersetzt diese Form der Kommunikation auf kongeniale Weise, indem auf jedem Stück mindestens zwei, wenn nicht drei Vocal Tracks gleichzeitig zu hören sind.
Das Verfahren lässt Perrys Flow of Consciousness Raps zu einem tatsächlich mehrdimensionalen Gefüge werden. Auf die Frage, welche Informationen sein neues Werk, das mit Vogelstimmen beginnt und ansonsten sehr relaxt und freundlich vor sich hin groovt, transportiere, antwortet er: „Ich wusste, da muss es eine dritte Dimension geben. Sonst hätte die Platte zu lang werden müssen und man hätte zu viele Versionen gehabt. Da draußen gibt es Kinder mit gespaltenen Gehirnen, sie haben keine Ein-Track-Gehirne, sie können die nächste Botschaft gleich mithören, wenn sie hereinkommt. So bekommen sie diese Botschaften im Paket und sie werden sie erkennen. Das Wort ist wichtig, denn zu viel Musik kann dich high machen, dann springst du aus dem Raum, und wenn du zurückkommen willst, dann bist du ausgesperrt und hast keinen Schlüssel.“
Am Anfang das Wort
Also spricht der Magier: Es ist gefährlich, das Tor zum Space zu öffnen, und man muss wissen, welche Worte man braucht, um heil wieder zurückzukommen. Am Anfang des Universums, auch hier ist sich Perry mit der Genesis einig, war das Wort: „Die Kabbala hat alles unter Kontrolle, die ultimative Kabbala. Ich wurde vom Sensenmann hierher geschickt. Dann ist König Edward V. hier, in einem schwarzen Körper.“ Spricht’s und bricht in ein irres Lachen aus.
Eine ganze Platte mit Stücken zu produzieren, die zwei unterschiedliche Vocal Tracks auf den beiden Stereokanälen immer wieder mit einem vermittelnden Track aus der Tiefe des Raums kombinieren, mag zuerst als ein revolutionärer Akt erscheinen, der sich nicht um die Belange von Plattenfirmen und Zielgruppenfreundlichkeit schert. Musik machen ist für Perry aber vor allem eine quasireligiöse Form der Kommunikation, die allerdings immer wieder von Vampiren und Parasiten des schnöden Mammons willen missbraucht wird: „Take us to the top to the very last drop, don’t stop, take us to the top“, heißt es in „Babylon Fall“, ironisch an die Adresse von MTV und BBC gerichtet. Es sind einfache Songs mit exakt getimten, pointierten Backgroundvocals, aufs Wesentliche reduzierten Basslines und simplen Melodien, die in ihrer Kompaktheit an die Hits erinnern, die Perry mit verschiedenen Interpreten in den Siebzigerjahren produziert hatte, darunter etwa George Faiths „To Be a Lover“, Max Romeos „War Ina Babylon“, Keith Rowes „Groovy Situation“ oder Junior Murvins „Police & Thieves“.
Mit „Jamaican E.T.“ hat Perry den Music & Science Lovers des Planeten nicht nur eine bemerkenswert fröhliche Platte über Liebe und Sonnenschein geschenkt, sondern auch ein Statement zur postkolonialen Situation des in Zürich wohnhaften Exiljamaikaners.
„Once I was black, now I am white, I come back with the light“, singt Perry für ein in der Mehrzahl weißes Publikum, das auf Konzerten unverdrossen Bob-Marley-T-Shirts trägt und barfuß tanzt. Dabei hat er Reggae als Lösegeld für seinen Sohn Gabriel bezahlt, den er mit Mireille in Zürich bekommen hat, wie er im Gespräch erklärt. Er hat Jah verleugnet, um böse Geister zu täuschen, die sich parasitär von der Rechtschaffenheit anderer ernähren. Und er hat damit bewusst sein schwarzes Reggae-Publikum verprellt, dem er obendrein klar macht, dass Dreadlocks des Teufels sind.
Dreadlocks des Teufels
Aber auch wenn Perry mit den Jamaikanern seine Probleme hat, Dreads verabscheut und behauptet, weiß zu sein: Perry bleibt ein Anhänger Marcus Garveys, der mit seiner afronationalistischen Universal Negro Improvement Organisation in den USA der Zwanzigerjahre die Parole „Zurück nach Afrika“ ausgegeben hatte. So wiederholt das erste Stück der neuen Platte stetig das Mantra des Politikers, „One god, one aim, one destiny“, von Perry ergänzt durch das Kürzel „LSP“. Das L steht für das britische Pfund, erklärt er dazu im Gespräch, das S für den amerikanischen Dollar, den er an seine Hosen und als Innenfutter in seine Mütze genäht hat. Das P schließlich steht für „poor“. Denn: „Gesegnet sind die Armen, verflucht sind die Reichen.“
Perry ist ein Prediger, und wer predigt, kann sich zwar raffinierte Witze, aber keine Ironie erlauben. Dass er dennoch keinerlei Ambitionen zum Guru hat, kommuniziert er über seine Musik. Hier lässt er sich von seinen Backgroundsängerinnen immer wieder preisen: „We love you, Mr. Perry.“ Das Augenzwinkern der Damen denkt man sich dazu.
Lee „Scratch“ Perry: „Jamaican E.T.“ (Trojan). Ebenfalls kürzlich auf Trojan erschienen: Lee Perry & Friends: „A Live Injection. Anthology 1968 To 1979“.
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