: Regieren und lau reformieren
von RALPH BOLLMANN
So hatten wir uns modernes Regieren immer vorgestellt. Nicht in einer abgeschirmten Nobelherberge tafelt der amerikanische Präsident nach einem anstrengenden Konferenztag, sondern ganz volksnah in einer Szenekneipe. Zwischen völlig normalen Gästen verspeist er einen Teller Elsässer Sauerkraut und plaudert mit dem deutschen Kanzler – ein Ereignis, das die Lokalgazetten noch tagelang beschäftigt.
So traut wie vor anderthalb Jahren in Berlin geht es an diesem Wochenende im der schwedischen Hauptstadt Stockholm nicht mehr zu. Gestern und heute konferiert erneut ein gutes Dutzend sozialdemokratischer Regierungschefs über „modernes Regieren für das 21. Jahrhundert“. Aus Furcht vor Globalisierungsprotesten ist es mit der Volksnähe nicht mehr weit her – auch wenn sich die Politiker wieder in die Innenstadt trauen. Ursprünglich sollte das Treffen, das im September wegen der Terroranschläge auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Washington verschoben wurde, in einem Nobelhotel am südöstlichen Stadtrand stattfinden.
Vor allem aber wird der deutsche Bundeskanzler diesmal auf einen Plausch mit dem mächtigsten Mann der Welt verzichten müssen. Bill Clinton reist zwar wieder an – aber der Präsidentenstuhl im mächtigsten Land der Welt ist dem progressiven Lager mit der Wahl George W. Bushs abhanden gekommen.
Von der Zuversicht, mit der die Reformsozialisten noch im Juni 2000 ihre schöne, neue Welt ausmalten, ist wenig geblieben. Dabei hatte das neue Jahrhundert so hoffnungsfroh begonnen. Im kurzen Zeitraum zwischen 1992 und 1998 waren in allen wichtigen Industrienationen außer Japan die Mehrheiten zugunsten von Linksregierungen gekippt. Erst lösten Bill Clinton und Romano Prodi ihre konservativen Vorgänger in Washington und Rom ab, dann folgten Tony Blair, Lionel Jospin und Gerhard Schröder in London, Paris und Bonn.
Ein neues sozialdemokratisches Zeitalter schien anzubrechen – allerdings ohne den Ballast der alten Ideologie. Die Mitte-links-Regierungen wollten die soziale Schieflage des Thatcherismus oder der Reagonomics korrigieren, ohne zum Wohlfahrtsstaat alten Stils zurückzukehren. Von einer „zweiten Moderne“ schwärmten Sozialwissenschaftler wie der Brite Anthony Giddens oder der Deutsche Ulrich Beck. Hoffnungsfroh formulierten die Regierungschefs noch auf ihrer Berliner Konferenz im Jahr 2000: „Die Neue Wirtschaft, die den Globus mit rasender Geschwindigkeit erobert, führt zu beispiellosem Wohlstand.“
Der weltweite Börsencrash, der Zusammenbruch der New Economy und der Krieg gegen den Terror haben derlei Blütenträume jäh beendet – und dem Reformeifer der neuen Sozialdemokratie einen kräftigen Dämpfer versetzt. In derart unsicheren Zeiten verlangt die Mehrheit nicht nach Reformen, sondern nach dem Erhalt des Status quo.
„Innovation und Gerechtigkeit“, der dynamische SPD-Slogan von 1998, hat ausgedient. Längst bastelt Generalsekretär Franz Müntefering an neuen Parolen. Mit dem Schlagwort „Sicherheit im Wandel“ läutete er das Wahlkampfjahr 2002 ein. Und die Mitte ist längst nicht mehr „neu“, sondern wieder ganz traditionell „rot“.
Übermäßiger Reformeifer, das zeigen Beispiele aus anderen europäischen Ländern, kommt bei den Wählern nicht gut an. Gastgeber Göran Persson kann davon ein Lied singen: Sein Sanierungsprogramm für den maroden schwedischen Sozialstaat war so ehrgeizig wie erfolgreich. Trotzdem bescherte es den Sozialdemokraten vor vier Jahren das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte.
Im Nachbarland Norwegen bezahlten die Sozialdemokraten ihre sparsame Finanzpolitik sogar mit dem Wechsel auf die Oppositionsbank. Sie wollten die Einnahmen aus dem Ölgeschäft in einen „Zukunftsfonds“ leiten, statt sie sofort zu konsumieren.
Auch im ungleich größeren Italien durften die Linksregierungen keinen Dank dafür erwarten, dass sie das Land zwischen 1996 und 2001 mit einem scharfen Reformkurs fit für den Euro gemacht hatten. Im Gegenteil: Der Populist Silvio Berlusconi verdankte seine Wahl vor allem dem blumigen Versprechen, schmerzhafte Einschnitte wie Rentenkürzungen und Steuererhöhungen rückgängig zu machen – und den Italienern die ins Land drängenden Einwanderer vom Leibe zu halten. Dabei war es Italien gewesen, das überhaupt erst den Anstoß für den Konferenztourismus in Sachen „modernes Regieren“ gab – mit einer Tagung, zu der Expremier Massimo d’Alema 1999 nach Florenz lud.
Der Versuch, die alten Werte in einem gemeinsamen Papier mit dem britischen Premier Tony Blair endgültig über Bord zu werfen, bekam dem Postkommunisten d’Alema ebenso schlecht wie dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder: Das „Schröder-Blair-Papier“ vom Sommer 1999 (siehe Kasten unten rechts) markierte einen Tiefpunkt im Ansehen der rot-grünen Bundesregierung. Inzwischen tut sich selbst Blairs Vordenker, der Soziologe Giddens, mit Kritik an „unregulierten Unternehmeraktivitäten“ hervor: „Ich war immer der Meinung, dass New Labour eine etwas zu starke Liebesaffäre mit Wirtschaftsführern hat.“
Populär war Modernisierungspolitik nie. „Der Neuordner hat alle die zu Feinden, die sich in der alten Ordnung wohl befinden“, wusste Machiavelli schon vor fünfhundert Jahren, „und laue Mitstreiter in denen, welche bei der Neuordnung zu gewinnen hoffen.“
Doch die Probleme bei der Sozialversicherung und der Bedarf an Einwanderern werden wegen der verbreiteten Unlust zu Reformen nicht kleiner. „Ein Bild des Stillstands“, glaubt deshalb der deutsche Meinungsforscher Manfred Güllner, „wäre gefährlich für die rot-grüne Koalition.“ Eine Ansicht, die von der großen Mehrheit der gesellschaftlichen Eliten und Meinungsführer nach wie vor geteilt wird.
Aber nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch steckt das „moderne Regieren“ in der Krise. Die rechtspopulistischen Regierungen, die seit zwei Jahren in Italien, Österreich und Dänemark ans Ruder gekommen sind, blockieren seither die europäischen Institutionen. Und George W. Bushs Neigung zu Alleingängen ohne jede Rücksicht auf die europäischen Verbündeten wurde durch die Ereignisse des 11. September nur kurzzeitig überdeckt. Gnädig nahm er die Solidaritätsadressen von Tony Blair, Gerhard Schröder und Lionel Jospin entgegen, um dann ungerührt weiter eigenmächtig Politik und „Krieg gegen den Terror“ zu machen.
Neues Ungemach steht den selbst ernannten „Progressiven“ im Wahljahr 2002 bevor, das mit der portugiesischen Parlamentswahl im März beginnt und mit der deutschen Bundestagswahl im September endet – und die Stühle der sozialdemokratischen Regierungschefs wackeln, von Lissabon bis Berlin.
In Frankreich immerhin hat die Linke die Chance, den konservativen Vormarsch ins Gegenteil zu verkehren – wenn es der Sozialist Lionel Jospin in der Stichwahl am 5. Mai schaffen sollte, den Gaullisten Jacques Chirac aus dem Präsidentenamt zu verdrängen. Für die Achse Schröder–Blair wäre ein solcher Sieg allerdings zweischneidig: Schließlich hat der Traditionalist Jospin das Wortgeklingel vom „dritten Weg“ nie hören wollen, und europapolitisch harmoniert er mit Schröder nur bedingt. „Der deutsch-französische Motor ist definitiv tot“, zitierte der Pariser Figaro erst in dieser Woche den Außenminister einer „bedeutenden französischen Hauptstadt“.
So locker und unbeschwert wie vor anderthalb Jahren, als der deutsche Kanzler gerade dem Höhepunkt seiner Popularität zustrebte, wird es beim Gipfel in Stockholm also nicht werden. Aber ein Trost bleibt den sozialdemokratischen Regierungschefs: Spaniens konservativer Premier José María Aznar hat bereits angefragt, ob er dem Club reformorientierter Staatenlenker beitreten könne. Dafür müssten die sozialdemokratischen Kollegen ihre Definition von „modernem Regieren“ zwar ein bisschen erweitern. Aber das haben sie in den letzten Jahren schließlich oft genug getan.
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