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Augen auf und durch

Baustellen, Kreuzungen, Menschen und Autos brechen in Spiegelfassaden und Rasterportionen: Warren Neidich fragt sich in der Galerie müllerdechiara mit seinen Fotografien und Videos, wie viel Künstlichkeit in unserem Sehen steckt

Insekten sehen so. Alles, worauf ihr Blick gerichtet ist, zerfällt in ein Raster, das zu einem einzigen Bild zusammenzufügen sie nicht imstande sind. Der Mensch kann das. Im Prinzip. Aber bei der sich wandelnden Bilderwelt bedarf es auch bei ihm einer fortwährenden neurologischen Anpassung. Andernfalls kann es ihm passieren, dass sein Sehsinn tillt. Und die Augenlider runterklappen. So jedenfalls sieht das der amerikanische Künstler Warren Neidich. Und für seine erste Einzelausstellung in Deutschland, in der neuen Berliner Galerie müllerdechiara, heißt das dann auch: Augen auf und durch!

Lebten wir nicht schon seit einigen Jahrzehnten im Zeitalter der Technisierbarkeit der Kunst, der Transmedialen und auf den Kopf gestellter Videos, hätten Neidichs stehende und laufende Bilder vielleicht noch das Zeug für einen handfesten Skandal. So wie damals, vor knapp 150 Jahren in Frankreich, als im „Salon der Unabhängigen“ diese ihre ersten impressionistischen Gemälde zeigten und die Pariser Connaisseure vor ihrer Unschärfe taumelten und sich empörten, was der Gehrock hielt. Heutzutage würde sie womöglich der Schlag treffen, vor Videos, in denen im rasanten Wechsel einzelne Bilder nur noch nervös zucken, als seien sie mit der Linse einer Mücke gedreht. Oder vor Neidichs Fotografien, vor denen man sich fühlen kann wie in einem Spiegelkabinett der gruseligsten Prismen.

Da brechen sich Baustellen, Kreuzungen, Menschen und Autos in Spiegelfassaden. Oder der Künstler rollerbladet durch New York und zerfällt dabei in Rasterportionen entsprechend dem Rhythmus des HipHop, der vom Band kommt. Dann wieder halten sich Frauen und Männer einen Prismenstab – einen Gradmesser neurobiologischer Diagnostik – vors Gesicht, sodass sie komplett zu Fratzen zerfallen.

Man sollte wissen, das Warren Neidich einmal Medizin, Psychologie und Neurobiologie studiert hat. In seinen früheren Arbeiten überwiegen noch die psychologischen Momente, Fragen nach Erinnerung oder Wahrnehmung von Realität. Ganze Sets hat Neidich aufbauen lassen, um deutlich zu machen, wie viel Künstlichkeit in unserem Sehen steckt. Jetzt kommen die neurologischen Gesichtspunkte zu ihrem Recht. Denn Neidich ist davon überzeugt, dass der Mensch wieder an einen Punkt angelangt ist, wo sich Räume virtuell und real derartig schnell verändern und darstellen, dass wir nur hinterherhinken können.

Unsere Neurotransmitter auf dem Weg ins Hinterstübchen haben demnach noch einiges an Evolution zu leisten, bis wir mithalten können. Vielleicht täuscht sich Neidich aber auch und wir sind schon längst so weit. Jedenfalls verlässt man den Raum mit seinem Video „Being Prada Seen“ nach einigen Minuten mit dem Gefühl, dass das reinste Werbung für den Klamottenkonzern ist. All das kennen wir zur Genüge aus Kaufhausberieselungen. Mag sein, dass sich da unser eigentlich nicht existenter siebter Sinn einschaltet. Und up to date ist. PETRA WELZEL

Bis 3. 3., Di.–Sa. 10–19 Uhr, Weydinger Str. 10, Mitte. Am 28. 2., 19 Uhr, Gespräch mit Warren Neidich

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