Erschöpfte Fantasiereserven

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Die Goldreserven der Bundesbank sind überflüssig und könnten in Zukunftsprojekte investiert werden

Das meiste ist ja schon weg. Die Bahnhöfe, und damit die öffentlichen Räume, in deren Weite sich Sonntags die Immigranten trafen und auf deren Bänken man ein Nickerchen zwischen zwei Zügen halten konnte – stattdessen nun Shopping Malls mit Security Guards, die knutschende Mitternacht-Teenies und alternde Alkoholikerinnen verschrecken. Die Bundespost ist privatisiert, mit dem Resultat, dass die SchalterbeamtInnen stehen müssen und nach den Telefonbüchern in den Zellen auch diese selbst abgeschafft werden: kein regengeschütztes Warten in der Beschwerdeschleifen der Stadtwerke mehr möglich. Die Privatisierung der Energieversorger hat eine zukunftsgelenkte Energiepolitik erschwert, die Schließung der Bäder verhindert mit unabsehbaren bevölkerungspolitischen Folgen die klassenübergreifende unverhüllte Begegnung. Und bei all diesen Liquidierungen des Volkseigentums, ob es um kommunalen Wohnraum ging oder um Staatsgüter, wurden wir, die Bürger, nicht gefragt. Sonst wären die Telefonzellen noch gelb. Und auch sonst einiges anders.

Aber nun ist nicht mehr viel übrig. Umso mehr Beachtung gebührt dem Vorschlag des SPD-Vorstandsmitglieds Hermann Scheer, der mittels einer Zeitungsschlagzeile am Sonntag in unsere Frühstücksrunde im Café Alibi flatterte. Scheer will die Gold- und Devisenreserven der Bundesbank auflösen und einem Investitionsprogramm für Zukunft und Arbeit zuführen. Sie werden nicht mehr benötigt, seit die Sicherung der Währungsstabilität an die Europäische Zentralbank übergegangen ist. Sie sind also totes Kapital, und nichts läge näher, als mit ihm nützliche Dinge zu tun. Der Gedanke war nahe liegend, und dass ihn noch niemand gedacht hat, ist nur damit zu erklären, dass es fünfzig Jahre lang eben nicht ging: reality lag. Nun ist der Vorschlag auf dem Tisch und zu erwarten, dass die SPD mit den 100 Milliarden Euro Breschen in die Zukunft schlägt; Opposition, Länder, Lobbys und Presse über die Verwendung streiten, der Finanzminister begehrlich wird. Erfreuliche Aussichten.

Die Vorstellung, dass ein unverhoffter Schatz gefunden wird, hat etwas Märchenhaftes und mobilisiert unsere Fantasie im Café Alibi. Wir erlauben uns einen kleinen Traum, zu dem uns Porto Alegre inspiriert, die Hauptstadt der Weltbürgerbewegung. Den Traum vom partizipativen Budget. In der brasilianischen Stadt beschließen die Bürger der Stadtviertel basisdemokratisch – welch schönes altes, fast vergessenes Wort –, ob die staatlichen Mittel, die nicht schon gebunden sind, für Slumsanierung, Schulen oder öffentliche Plätze verwendet werden. Seitdem ist die Korruption gesunken und die demokratische Partizipation gestiegen.

Aber wie sollte so etwas in großem Maßstab funktionieren? Vielleicht so, fantasieren wir: 100 Milliarden Euro, das sind rund 330 Millionen pro Wahlkreis. Der Bundestag beschließt dazu einen Ausgleichsschlüssel zwischen bedürftigeren Kreisen (etwa Ostfriesland) und reicheren (etwa Stuttgart-Süd); die kommende Bundestagswahl wird kombiniert mit einer Volksabstimmung über die Verwendung des nationalen Schatzes. Bürgergruppen dürfen Vorschläge machen, unter einer Bedingung: die Verwendung des Geldes muss nachhaltige Folgen haben – für Umwelt, Bildung, Kultur, Lebensqualität, Arbeitsplätze.

Im Durchschnitt also, rechnen wir, würden 250.000 Wähler über die Verwendung von 330 Millionen abstimmen – mit der Vorgabe, je ein Drittel für bundesweite, landesweite und kommunale Zwecke auszugeben. Die Parteien könnten sich mit Vorschlägen beteiligen: ihren Sachverstand einbringen, sich profilieren, etwa, indem sie bestimmte Vorschläge stärker machen durch weitergehende Zusagen. Es wird sehr konkret im Café Alibi, als wir uns ausmalen, wie die Bürger ihre Prioritäten setzen könnten. Hamburg-Blankenese, so vermuteten wir, etwa so: Im überregionalen Budget je 40 Millionen für den Autobahnausbau und den Rückbau des Truppenübungsplatzes Nordheide in einen Naturschutzpark, 15 für Genforschung, 10 für die Hauptstadtkultur und 5 für das Berliner Stadtschloss; im regionalen Budget 50 Millionen für Solardächer in Hamburg, 40 für die Computerisierung der Schulen, 20 für die Sanierung von Baudenkmälern; und im Wahlkreis selbst: 50 für einen neuen Golfplatz (Arbeitsplätze für Caddies!), 34 für Kinderbetreuung, 20 für die Verschönerung des Elbuferpromenade, 6 für Drogenprophylaxe. Berlin-Kreuzberg verteilte sein Budget national zu gleichen Teilen an die Förderung regenerativer Energien, ein Vertriebsnetz für ökologischen Landbau und Forschungen zum Güterschienenverkehr; der Region spräche es je ein Viertel für Landschaftspflege, Kindergärten, Ganztagsschulen und öffentliche Internetzugänge zu; und in Kreuzberg selbst ginge der Löwenanteil zu gleichen Teilen an die Solarisierung der öffentlichen Bauten und den Schulausbau, der Rest an den Kinderbauernhof. In Niederbayern fielen die meisten Millionen an die ökologische Landwirtschaft, im Ruhrgebiet an Intelligenzforschung und Schulausstattung. Und so weiter.

Würden die Bürger gefragt, wären die Telefonzellen noch gelb und auch sonst einiges anders

Vielleicht käme es auch ganz anders, als wir es uns im Café Alibi ausdenken, aber mit Sicherheit würde ein partizipatives Budget heftige Diskussionen auslösen. Für ein paar hunderttausend Bürger wäre es vielleicht der Einstieg in eine längerwährende Beschäftigung mit öffentlichen Aufgaben, nicht immer zur Freude der amtierenden Politiker. An manchen Orten käme es vorübergehend zu einer Überkapazität an Fahrradwegen, Krankenbetten und putzigen Krötentunneln. Aber das könnte man ja riskieren – für eine deutliche Stärkung der Partizipation, der regionalen Wirtschaft, der erneuerbaren Energie. Vernünftige Einwände gibt es kaum in unserer Frühstücksrunde. „Im Libanon hat es die parlamentarische Korruption verstärkt“, meint einer; und der Politologe in der Runde erinnert daran, dass das Wahlvolk bei uns keine haushaltswirksamen Entscheidungen treffen darf. Daraufhin wird er von seinem Münchner Freund mit dem Hinweis niederargumentiert, dass Privatisierungserlöse von befugten Parlamentariern im Allgemeinen an Dinge wie den Garchinger Atomreaktor überwiesen oder zur Begleichung vorausgegangener Fehler verwendet werden.

Gut, es ist Sonntagmorgen, und – ernsthafte Menschen, die wir sind – verabschieden wir vor dem Spaziergang unsere partizipativen Träumereien. Aber wir machen uns auf eine lebhafte parlamentarische Debatte über die Verwendung der Milliarden gefasst, auf ein wenig Aufbruch und frischen Wind. Zwei Tage später nun müssen wir feststellen, dass kein SPD-Politiker und nur einer aus der Opposition sich zu Scheers Vorschlag geäußert hat, dass er nicht einmal als Schwachsinn, Unmöglichkeit oder Populismus attackiert wird. Auch die Zeitungen haben bislang null reagiert. Und das nun ist mit reality lag nicht mehr zu erklären, es deutet eher auf eine völlige Erschöpfung der politischen Fantasiereserven in diesem Parlament und seiner Presse. Und das macht uns denn doch ratlos.