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Keine zweite Chance

Wenn der Konvent sich verzettelt, wird die Europäische Union keine Zukunft haben

von KLAUS HÄNSCH

Der Konvent ist eine kleine Revolution: Zum ersten Mal wird eine Vertragsreform auch von europäischen und nationalen Parlamentariern vorbereitet. Das hat strategische Bedeutung für die weitere Entwicklung der EU. Bisher wurden die Verträge mit der zwischenstaatlichen Methode verändert. Der Konvent kann zum ersten Schritt hin zur Gemeinschaftsmethode werden.

Erfolg und Scheitern liegen nahe beieinander. Kommt der Konvent nur zu vagen Empfehlungen an die nächste Regierungskonferenz oder zur Formulierung von ein paar Änderungsanträgen zum Vertrag von Nizza, ist er überflüssig. Legt er den Staats- und Regierungschefs zwei oder drei alternative Optionen vor, weiß die europäische Öffentlichkeit nicht, was er will, und die Regierungskonferenz tut, was sie will. Der Konvent muss sich zu einem einzigen, kohärenten Vorschlag von kühnem Realismus durchringen. Wird dieser Vertragsentwurf von einem breiten Konsens getragen, bekommt er ein politisches Gewicht, das die Regierungen kaum ignorieren können.

Dafür braucht er das Rad nicht neu zu erfinden. Das EU-spezifische System von check and balance hat sich fünfzig Jahre lang bewährt. Es gehört nicht über Bord geworfen, aber für die erweiterte EU neu justiert. Ein schlichter Satz im neuen Vertrag: „Die EU-Gesetze und die Einnahmen und Ausgaben der Union werden von Parlament und Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen“, würde die bisherige Flickschusterei bei den Rechten des Parlaments und bei den Entscheidungsverfahren des Rats beseitigen. Das wäre ein Quantensprung zur Sicherung der Handlungsfähigkeit der EU und zur Transparenz ihrer Entscheidungsverfahren.

Die politische Verantwortlichkeit der Kommission und ihres Präsidenten muss gestärkt werden, gewiss. Aber manche Reformidee führt auch in die Irre: etwa die einer direkten Wahl des Kommissionspräsidenten. Man stelle sich vor, wie im deutschen Fernsehen ein portugiesischer, ein schwedischer, ein italienischer Direktkandidat (oder eine Direktkandidatin), zwangsläufig mit den Stimmen ihrer Dolmetscher, sich gegeneinander zu profilieren versuchen. Das wäre das Gegenteil von Bürgernähe. Der Kommissionspräsident muss von der Mehrheit des Europäischen Parlaments gewählt werden. Plebiszitäre Elemente passen nicht in eine „Föderation der Nationalstaaten“.

Der Rat vor allem muss nicht nur handlungsfähig bleiben, sondern endlich führungsfähig werden: Dafür müssen seine Regierungsfunktionen von seinen legislativen Aufgaben getrennt werden. Für beide Bereiche wird die Einstimmigkeit abgeschafft. Als Legislativorgan wird der Rat zur Staatenkammer und tagt öffentlich.

Die Währungsunion erzwingt eine engere Koordination der nationalen Haushalts- und Steuerpolitiken. Die EU braucht Mechanismen zur Durchsetzung einer der gesamten Eurozone angemessenen Wirtschaftspolitik.

Kompetenzfragen sind auch Demokratiefragen. Deshalb müssen die Aufgaben von Mitgliedstaaten und Union präzisiert und neu geordnet werden. Dabei hat eine Rückverlagerung von Kompetenz auf die nationale Ebene wenig Chancen. Kommen zudem solche Vorschläge aus Deutschland, stehen sie unter dem Verdacht, es gehe den Deutschen nicht um weniger Kompetenzen, sondern um weniger Geld für die EU. Aber Wolfgang Clements Vorschlag, die EU-Kompetenzen nach „ausschließlichen Kompetenzen“, „Grundsatzkompetenzen“ und „Ergänzungskompetenzen“ neu zu ordnen, wäre auszuloten.

Gelingt es, die Essenz der Verträge in einem „Grundlagenvertrag“ über Zielsetzung, Organisation und Funktionsweise der Union zu konzentrieren, hätte das konstitutionelle Qualität.

Wird der Konvent eine „Verfassung“ für die Europäische Union entwerfen? Das Europäische Parlament ist dafür. Die deutschen Vertreter im Konvent wollen es. Die einiger anderer Länder auch. Aber eben längst nicht alle. Und nicht überall entwickelt der Begriff „Verfassung“ mobilisierenden Charme.

Der Konvent sollte es deshalb vermeiden, mit Begriffen zu hantieren, die von Land zu Land Unterschiedliches bedeuten. Wenn er sich in Definitionsdiskussionen verirrt, ist er verloren. Besser ist es, er folgt bei seiner Arbeit dem „kategorischen Imperativ“, dass jeder seiner Vorschläge immer auch Bestandteil einer europäischen Verfassung sein könnte. Dann kann auch eine daraus werden.

Der Konvent beginnt seine Arbeit in einer Zeit, in der Europa immer wichtiger wird und die Bürger immer weniger interessiert. Sie sind zwar (noch) nicht gegen die EU, aber sie wissen nicht (mehr) so recht, warum sie dafür sein sollen. Der Konvent muss seinen Beitrag dazu leisten, dass sie wieder wissen können, wozu sich die Völker Europas in einer Union zusammenschließen. Ihnen geht es nicht zuerst um Institutionen, so wichtig sie sein mögen. Nicht einmal um eine Politikreform in der Landwirtschaft oder bei der Strukturförderung, so notwendig sie wäre. Es geht um die wirtschaftliche, politische und, wahrlich nicht zuletzt, um die kulturelle Selbstbehauptung Europas – um die Bewahrung einer europäischen Lebensweise. Die europäische Grundrechtecharta, fest im Vertrag verankert, gäbe dafür die Orientierung.

Der Konvent ist ein Wagnis. Und er hat nur eine Chance. Vertut er die, wird er eine zweite nicht bekommen. Europas Völker büßten ihr Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft ein. Das wäre wohl irreparabel. Hat er Erfolg, bekäme die Einigung Europas neuen Schwung, der die Union über die Klüfte von Erweiterung und Globalisierung, neuen Bedrohungen und unumgänglichen Politikreformen hinwegtragen wird.

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