: Die verstockten Protestanten
Im Streit um das Schulfach LER haben sich Kirchen, CDU und Brandenburgs Landesregierug auf einen Kompromiss geeinigt. Doch drei Elternpaare, darunter die Drekes, klagen weiter für Religion als Pflichtfach. Die Kirchenleitung reagiert verschnupft
von PHILIPP GESSLER
Der Himmel reißt auf. Mutter Dreke kommt mit dem Rad von der Arbeit. Luisa (15) und Patricia (9) knuddeln vor der Tür des Einfamilienhauses einen schnuckeligen schwarzen Hund, der vom Tierheim ausgeliehen wurde. Ihr Vater Detlef Dreke war zu Mittag zu Hause, jetzt muss er wieder zu seiner Baustelle. Mit leicht verbrämter Strenge fährt er Luisa an, warum sie ihren Rucksack einfach auf die kleine Treppe zur Haustür gepfeffert habe. An der Treppe hängt ein buntes Laken. „Willkommen daheim“ steht darauf, denn die 20-jährige Tochter Franziska ist am Vortag von einem Studienaufenthalt in Korea in das Einfamilienhaus zurückgekehrt. Welches Problem hat eigentlich Herr Dreke?
Das zu erfahren, sind wir ins brandenburgische Luckenwalde, der Kreisstadt des Landkreises Teltow-Fläming, gefahren. Der 49-jährige Dreke stürmt aus dem Wintergarten seines Hauses, bittet um Entschuldigung, dass er so wenig Zeit habe – dabei sind wir zu spät. Eine schwarze Lederweste und Jeans hat er an, dazu kommen lange, lockige Haare und ein schon angegrauter Vollbart. So sahen Leute aus, die in den Siebzigern „Jesus“ genannt wurden oder nicht ins System passen wollten.
Vielleicht drückte ein solches Aussehen in der DDR in den Achtzigern ja auch noch Widerstand aus. Und in gewisser Weise passt das für Detlef Dreke noch heute: Er klagt beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen das brandenburgische Schulfach „Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde“ (LER). Trotz alledem.
Denn seit Ende Januar ist er eigentlich beendet, dieser Dauerkonflikt zwischen der Potsdamer Landesregierung auf der einen und den großen Kirchen, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und christlichen Familien aus Brandenburg auf der anderen Seite: Beide Seiten akzeptierten im Grundsatz einen Vergleichsvorschlag der obersten deutschen Richter zu LER. Union, Kirchen und Eltern verzichteten darauf, höchstgerichtlich klären zu lassen, ob das Pflichtfach verfassungswidrig ist. Religion wird nicht – wie das Grundgesetz grundsätzlich vorschreibt – ordentliches Lehrfach in der Mark. Es wird jedoch nach dem Vorschlag der Verfassungsrichter aufgewertet, erhält de facto den gleichen Rang wie LER. Und das selbst im Detail, wo der Teufel steckt: keine Abmeldung beim Schulamt, nicht nur Randstunden für Religion, mehr Bedeutung für die Noten.
Mit dem Spruch aus Karlsruhe konnten alle gut leben: Landesvater Manfred Stolpe (SPD), der analysiert hatte, der Streit um LER habe ihm bei den letzten Landtagswahlen die absolute Mehrheit gekostet, hat Ruhe an der Schulfront. Die Union erkannte, dass sie mit einer Kampagne gegen den Vergleichsvorschlag beim Bundestagswahlkampf keinen Blumentopf mehr gewinnen kann. Die Kirchen bekamen de facto ihren stets geforderten Wahlpflichtbereich LER/Religion. Auch die klagenden Eltern – 130 katholische und fast alle der 7 evangelischen Familien – waren zufrieden: bis auf Familie Dreke und zwei andere evangelische Elternpaare.
Im Wintergarten entschuldigt sich Dreke wieder: Er sei „kein großer Redner“. Ein „unbescholtenes Blatt“ seien sie doch, sagt Dreke, eine „ganz bescheidene Familie“. Und er sei auch nicht, was man vielleicht erwartet habe, „ein Powertyp in erster Potenz“, sagt der Vater von vier Töchtern. Dreke ruft in die Küche, eine seiner Töchter solle einen Kaffee machen. Für ihn sei das eine „ganz natürliche Sache“ gewesen, gegen LER vor das oberste deutsche Gericht zu ziehen: „eine einfache Reaktion, weil ich nichts Besseres wusste“. Schließlich hätten sie bei „vielen Freunden über Kirchens in den alten Ländern“ gesehen, wie das sei, wenn Religion ein anerkanntes und gleichberechtigtes Lehrfach sei: „Das fanden wir als Christen toll.“
Drekes Glaube hat ihm noch vor wenigen Jahren einige Scherereien eingebracht: Der Sohn eines Tapeziermeisters, der von der Stasi überwacht wurde, war vor 1989 in der Jungen Gemeinde aktiv und ließ sich konfirmieren. Auch das atheistische Pendant, die Jugendweihe, absolvierte Dreke notgedrungen, weil er sonst keinen Studienplatz bekommen hätte – eine „Pflichtkür“ sei das eben gewesen, sagt er ungelenk. Nichts, was man hätte vermeiden können. Als dann Anfang der Neunzigerjahre die ersten Diskussionen über das Pflichtfach LER aufkamen, habe er sich gedacht: „Man muss jetzt was machen.“
Mit anderen Eltern habe er sich zusammengeschlossen, die auch gegen das neue Schulfach waren. Sie klagten in Karlsruhe. Ein großer Aufwand sei das eigentlich nicht gewesen, erzählt Dreke, denn sie hätten ja eine „kirchliche Organisation“ gehabt, die ihnen den klagenden Anwalt finanziert habe. Welche „kirchliche Organisation“?
Dreke druckst rum. Naja, sagt er dann, es sei eben die evangelische Landeskirche gewesen, die den Anwalt für alle Eltern gestellt habe. Nach den Bitten der Kirche sollte man diese Hilfe aber nicht so an die große Glocke hängen, wie Dreke berichtet. „Jetzt spiele ich aber nicht mehr mit – und jetzt bin ich der Buhmann.“ Tatsächlich steht der Anwalt der Landeskirche nun nicht mehr zur Verfügung. Dafür habe eine andere Organisation den weiter klagenden Eltern ihre Unterstützung zugesagt. Doch wer da hilft, das will Dreke nicht sagen.
In der Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg ist man nicht besonders gut auf die evangelischen Familien zu sprechen, die trotz des Kompromissvorschlags aus Karlsruhe ihre Klage aufrechterhalten wollen. Die weiter klagenden Eltern hätten eine „schwierige Position“, wenn sie nur sagten, über ihre Position sprächen sie nicht mehr, betont Steffen-Rainer Schultz, Abteilungsleiter Bildung/Schule im Berliner Konsistorium. „Schwierigkeiten“ gebe es, mit diesen Familien „ins Gespräch zu kommen“. Er habe sie immer wieder zu überzeugen versucht, das Vergleichsangebot anzunehmen, sei gar zu ihnen hingefahren, als sie telefonisch „nicht mehr erreichbar“ gewesen seien. Bezeichnend sei ein Ausspruch von den weiter klagenden Eltern gegenüber der Kirche gewesen, sagt Schultz: „Ihr habt die besseren Argumente – aber dennoch.“ Sie wollten offenbar nicht mehr mit der Kirche reden. Diesen Eltern sei die „Taube auf dem Dach“ wichtiger als der Spatz in der Hand. Und außerdem: Wenn jetzt das brandenburgische Schulgesetz nach den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts geändert werde: warum sollten die Richter dann noch ein Urteil fällen zu einer Klage, deren Grundlage gar nicht mehr bestehe?
Ähnlich argumentiert die Sprecherin der vier evangelischen Familien, die sich dem Vergleichsangebot aus Karlsruhe anschließen wollen: „Der Zug ist abgefahren“, sagt Astrid Ingendaay-Herrmann. Den Vergleichsvorschlag müsse man wohl, auch wenn es schade sei, „hinnehmen“. In der vergangenen Woche bekamen die kompromissbereiten Eltern den Referentenentwurf des neuen brandenburgischen Schulgesetzes zu sehen, das zugunsten des Religionsunterrichts geändert werden soll. Der Entwurf sähe „schon ganz gut“ aus, meint Ingendaay-Herrmann. Sie kann nicht verstehen, dass einige der Familien, die ursprünglich dem Kompromissvorschlag zugestimmt hätten, nun wieder davon abgerückt seien. Sie hätten auch nicht mehr auf Anrufe geantwortet, aber das sei ja „ihr gutes Recht“. Schließlich könne man „nicht ewig drängen“. Die Eltern, die „abtrünnig geworden sind“, könnten ja auch gegen das neue Gesetz klagen, das voraussichtlich im Sommer den Landtag passieren soll. Aber ob das dann noch Erfolg habe?
Dreke ficht eine solche Argumentation nicht wirklich an. Ob eine Klage nach einer Änderung des Schulgesetzes überhaupt noch Erfolg haben könne, das „können die wenigsten beurteilen“. Er habe den Referentenentwurf „nur überflogen“, aber sich schon entschieden: „Das ist nicht mein Ding.“ LER bleibe ein Pflichtfach, Religion sei nicht mehr als „eine Art Arbeitsgemeinschaft“. Er empfinde auch den Vergleichsvorschlag weiterhin als „diskriminierend“, ja sein „Elternrecht“ verhöhnt, da Religion eben nicht als ordentliches Lehrfach anerkannt sei. Schließlich sichere das Grundgesetz im Artikel 7 Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach zu, sagt er – ein entschuldigender Unterton schwingt mit.
Die kleine Patricia kommt in den Wintergarten – sie ist die einzige seiner vier Töchter, die vielleicht noch von einem Pflichtfach betroffen sein könnte. Artig gibt sie die Hand und lächelt.
Religion hat sie schon jetzt in der Grundschule. „Ihr Lieblingsfach“, sagt Vater Dreke. Ein Kontakt zu den Kompromiss-Eltern bestehe nicht mehr, räumt er ein, aber das sei „kein böser Wille“, sondern habe sich einfach so ergeben. Mitglied des Kreiskirchenrates, der Kreis- und Landessynode ist Dreke. Nicht alle Synodalen könnten seine Haltung verstehen, sagt er. Aber er sei eben „davon überzeugt“, in seiner Position auch bestärkt durch seinen Glauben. Außerdem schreibe doch das Grundgesetz, das wiederholt er, ein ordentliches Lehrfach Religion vor: „Wofür haben wir sonst das Grundgesetz?“ Er sei „zufrieden, in einer Demokratie leben zu können“, denn: „In der DDR war das nicht immer so.“
Ein Handy klingelt. Dreke ist Projektmanager beim Diakonischen Werk. Ein Pfarrhaus wird renoviert, jetzt hat man mittelalterliche Reste gefunden. Er entschuldigt sich, nicht schon längst da zu sein: „Ich verspreche, ich fahre los.“ Und dann gibt er doch noch seiner ersten Idee nach, dass die Fotografin ein Bild von ihm an seinem Bass machen solle. Im ausgebauten Partykeller, wo Jimi Hendrix und The Doors als CD-Cover wie Ikonen an der Wand hängen, greift der Protestant zum Bass, schüttelt vor der Kamera gekonnt seine Mähne. Wie damals, als Rock ’n’ Roll noch Protest war.
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