: Irrungen, Wirrungen
Nida-Rümelin will eine Schiedskommission zur NS-Raubkunst, andere forden mehr Transparenz der Museen: Ingeborg Priors Buch „Die geraubten Bilder“ zeigt am Erbe von Sophie Lissitzky-Küppers den zähen Streit um die Rückgabe solcher Kunstwerke
von HARALD FRICKE
13 verschollene Kunstwerke stehen auf dem handgeschriebenen Blatt Papier, das Sophie Lissitzky-Küppers hinterlassen hat. Die Liste ist für Jen Lissitzky Testament und Auftrag zugleich. Wäre der Sohn der deutschen Kunsthistorikerin und des russischen Konstruktivisten El Lissitzky im Besitz der Bilder, hätte er ein gewaltiges Vermögen – nach dem heutigen Marktwert an die 50 Millionen Euro. Doch sie wurden 1937 von den Nazis konfisziert und galten nach dem Krieg als vermisst. Seit seiner Ausreise in den Westen 1989 aber weiß Jen Lissitzky, dass die Kunstwerke immer noch existieren. Er hat in Museen vor ihnen gestanden: Allein die „Improvisation Nr. 10“, die Wassily Kandinsky 1910 gemalt hat, wird auf bis zu 25 Millionen Euro geschätzt, und Paul Klees kleinformatige „Sumpflegende“ auf Karton war 1982 bereits 800.000 Mark wert. Beide Arbeiten sind heute Bestandteil großer Sammlungen, der Kandinsky gehört dem früheren Schweizer Kunsthändler und Multimillionär Ernst Beyeler, Klees Studie hängt im Münchner Lenbachhaus.
Trotzdem ist der rechtmäßige Erbe machtlos. 1992 wurde sein Versuch, das Klee-Bild per einstweilige Verfügung an sich zu bringen, vom Berliner Landgericht gestoppt. Christoph Stölzl hatte als Direktor des Deutschen Historischen Museums verhindert, dass das Gemälde aus einer Rekonstruktion der „Entartete Kunst“-Ausstellung abgeholt wurde. Seine Begründung wirkt angesichts der historischen Tatsachen allerdings reichlich makaber: Stölzl sah in der Rückholaktion eine „dreiste Geschmacklosigkeit“, weil sich für ihn im Verhalten Lissitzkys die Praxis im Umgang mit Kunst während der NS-Zeit zu wiederholen drohte. Dabei müsste Stölzl als früherer Impresario des Münchner Stadtmuseums gewusst haben, dass die Herkunft des Bildes aus dem Lenbachhaus unklar ist.
Auch Ernst Beyeler nahm es mit der Provenienz in Sachen Kandinsky nicht sonderlich genau, als es zum Prozess gegen Jen Lissitzky kam. Er habe, so der Exgalerist, das Gemälde 1955 von einer Sammlerin in Winterthur gekauft, ohne an deren Eigentumsrechten zu zweifeln. Da man ihm keine „Bösgläubigkeit“ nachweisen kann, ist die Transaktion nach Schweizer Gesetz legal – in solchen Fällen verjährt selbst der Besitz von Diebesgut. Dennoch gibt es auf Seiten von Beyeler weiter Schlichtungsbedarf: Im November 2001 soll er Lissitzky eine Eintrittskarte auf Lebenszeit zum Besuch der Fondation Beyeler angeboten haben. Damit er das Bild immer anschauen kann.
Die überaus zynische Geste des Mäzens macht nur ein Detail in Ingeborg Priors Buch „Die geraubten Bilder“ aus, das gerade bei Kiepenheuer & Witsch (304 S. 22,90 Euro) erschienen ist. Letzte Woche hat das Thema zusätzlich an Aktualität gewonnen, denn nun fordert selbst Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin eine Schiedskommission, die klären soll, wie bei der Rückgabe von NS-Raubkunst zu verfahren sei. Eine solche Anlaufstelle wurde schon zur Washingtoner Konferenz über Holocaust-Vermögen im Dezember 1998 diskutiert. Jetzt müsse endlich „Moral vor Recht ergehen“, meinte auch Uwe M. Schneede, Direktor der Hamburger Kunsthalle, auf einer Tagung vor zwei Wochen.
Tatsächlich bringt die Forschung immer mehr Dokumente zutage, nach denen sich offenbar viele der gestohlenen Kunstwerke im Besitz von Museen und prominenten Sammlungen befinden. Seit 1997 im Nachlass des Londoner Kunsthändlers Harry Fischer Verwaltungsakten des gesamten NS-Inventars aufgetaucht sind, geht man von 30.000 Kunstwerken aus, die die Nazis allein aus deutschen Museen entfernt haben. Wie hoch die Dunkelziffer im Privaten ist, kann man nur schätzen.
Zweifellos gehört auch Jen Lissitzky zu den Leidtragenden. Bislang konnte er vor Gericht nicht beweisen, dass die Kunstwerke Eigentum seiner Mutter sind, die sie in den 20er-Jahren dem Provinzialmuseum in Hannover zur Aufbewahrung als Leihgabe überlassen hatte. Das war im Winter 1926 – wenige Wochen, bevor Sophie Küppers nach Moskau auswanderte, um den russischen Künstler El Lissitzky zu heiraten. Ihre Bilder bekam sie nie wieder zu Gesicht: 1937 wurden sie von den Nazis beschlagnahmt, wenige Wochen später dienten sie in der Ausstellung „Entartete Kunst“ als Beispiel der „Verworrenheit und Geisteskrankheit“ moderner Kunst. In der Sowjetunion nahm Stalins Geheimdienstchef Berija zur selben Zeit jene berüchtigten Säuberungen vor, bei denen zahlreiche Kulturschaffende der Paranoia des Diktators zum Opfer fielen. Der Schriftsteller Sergej Tretjakow wurde als Volksfeind erschossen, Eisenstein und Prokofjew erhielten zeitweise Arbeitsverbot. El Lissitzky, der als Abweichler von der Parteilinie des Sozialistischen Realismus galt, bekam keine Aufträge mehr und starb im Dezember 1941 an einer Lungenkrankheit, drei Jahre später wurde seine Frau wegen ihrer deutschen Abstammung als Staatsfeindin mit ihrem Sohn Jen nach Sibirien verbannt.
Sophie Lissitzky-Küppers hat dort lange überlebt. Sie hat Baracken geputzt und Handarbeit unterrichtet, sie ist auch nach der Aufhebung des Urteils unter Chruschtschow bis zu ihrem Tod 1978 mit 87 Jahren in Nowosibirsk geblieben. Vielleicht wollte sie nicht nach Deutschland zurück, weil sie bereits 1958 erfahren hatte, dass ihr Kunstschatz nach dem Krieg unauffindbar geblieben war. Vielleicht mochte sie auch nicht teilhaben an der neuen Normalität, in die sich ihre Verwandtschaft während des Wirtschaftswunders so leicht eingefügt hatte. Ihre Brüder jedenfalls wollten in den 50er-Jahren nichts von der „Kommunistin“ wissen, die zudem noch mit einem Juden davongezogen war. Niemand in der wohlhabenden Familie hat für sie jemals eine Bürgschaft zur möglichen Übersiedelung unterschrieben.
Wer in dieser Tragödie versagt hat, lässt Ingeborg Prior mit ihrer biografisch gehaltenen Geschichte in der Schwebe. Dafür ist der Titel umso zielstrebiger: „Die geraubten Bilder“ schildert mitunter zwar rührstückhaft, aber eben auch sehr dicht beschrieben eine Fallstudie zur Raubkunst und den juristischen Wirren der Restitution. Zugleich erfährt man, wie der deutsche Nachkriegskunsthandel quasi bruchlos die Geschäfte der Nazis mit gestohlenen Bildern weiterführen konnte. Gleichwohl hat auch die neuerliche Forschung Konsequenzen: Bisher wurden bereits von der Henri-Nannen-Stiftung in Emden oder dem Kölner Ludwig-Museum unrechtmäßig erworbene Kunstwerke an die Erben früherer Besitzer zurückgegeben. Sollte sich Nida-Rümelins Initiative durchsetzen, könnten vielleicht sogar Kandinskys „Improvisation Nr. 10“ und Klees „Sumpflegende“ bald doch noch über Jen Lissitzkys Sofa hängen – neben Louis Marcoussis „Weintraube“ und der „Kubistischen Landschaft“ von Albert Gleizes. Sie standen auch auf „Sophies Liste“.
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