: Bitte keine Bomben werfen
Warum Afghaninnen ihre Burkas nicht verbrennen und trotzdem auf den Westen setzen: Die Ärztin Azadine schreibt weibliche To-do- und Not-to-do-Listen
von SIBA SHAKIB
Meine afghanische Freundin Azadine, die Ärztin, nennt sich selbst etwas übertrieben Widerstandsfrau. Aber renitent, das ist sie. Sie kann einfach nicht den Mund halten. Und dann kommt sie alle naselang, wie sie sagt, „zu Besuch“ in die westliche Welt. Aber was sie eigentlich will, ist, ihre Zettel loszuwerden.
Ständig schreibt sie irgendwelche Namen oder Frauenwünsche oder sonst was auf. Neulich hatte sie Namen von Toten dabei. Tote, die seit der Bombardierung ihrer Heimat gestorben sind. Aber das ist jetzt vorbei. Nicht dass nicht mehr gebombt und gestorben würde. Aber wie oft soll man das denn noch sagen?, fragt Azadine. Am Ende könnten die Leute im Westen ihre Lust an Afghanistan verlieren. Nein, Azadine ist schlau. Sie lässt sich immer wieder etwas Neues einfallen, um ihr Land im Gespräch zu halten. Über die Toten können wir auch noch später reden, sagt sie. Die laufen ja nicht weg.
Jetzt ist Azadine schon wieder hier. Weil Internationaler Frauentag ist. Und sie hat auch schon wieder zwei neue Listen angelegt. Eine To-do- und eine Not-to-do-Liste. Ich soll sie wieder kopieren, zur Sicherheit an verschiedenen Stellen deponieren und weitergeben. Die Zu-tun-Liste soll ich jeder/jedem geben, die/der sich für Afghanistan interessiert und helfen will. Man beachte das „jeder/jedem“ und das „die/der“. Die andere, die Nicht-tun-Liste soll ich an Politikerinnen und Politiker und an radikale Emanzen geben, die viel über Afghanistan reden, aber eigentlich ganz anderes im Sinn haben, als den Frauen in Afghanistan zu helfen.
Ich kenne keine radikalen Emanzen, sage ich. Die gibt es nicht mehr. Die sind ausgestorben. Das kann nicht sein, sagt Azadine, die muss es geben, immerhin sind zwei, drei von ihnen sogar in Afghanistan aufgetaucht. Sie hätten gesagt, die afghanischen Frauen sollen sich endlich befreien, ihre Kopftücher oder zumindest die Burka ausziehen und verbrennen. Öffentlich und im Stadion. Das ist da, wo die Taliban Menschen, auch Frauen, erschossen und erschlagen, ihnen Hände und Füße abgehackt haben.
Da sollen wir jetzt unsere Burkas verbrennen, sagt Azadine. Das geht aber nicht. Wenn wir nämlich ohne Burka auf die Straße gehen, könnte es sein, dass wir verschleppt, vergewaltigt und anschließend ermordet werden. Also, bei allem Verständnis für westliche Vorstellungen von Freiheit, das Burkaverbrennen muss verschoben werden. So steht also auf der Nicht-tun-Liste: Keine Verbrennung und Zwangsabschaffung von Burkas, weil das nämlich für uns genauso schlimm ist wie jede andere erzwungene Kleiderordnung. Außerdem hat Azadine geschrieben: Bitte keine Bomben mehr abwerfen.
Das ist aber nicht alles; wer Azadine kennt, weiß, dass ihre Liste lang ist. Sehr lang. Ich will Sie nicht mit allen Punkten auf ihrer Liste nerven. Aber Azadine ist meine Freundin, und ich weiß, dass sie auch in Ihrem Herzen einen Platz haben wird. Ihr zuliebe und Ihnen zuliebe werde ich Ihnen noch zwei, drei Punkte von ihrer Liste erzählen. Zum Beispiel wollen die Frauen in Afghanistan nicht, dass noch mehr Minen in ihrem Land verteilt werden. Inzwischen lauern zweimal so viele, nicht explodierte Körper in ihrer Heimat als vor dem Beginn der Bombardierung am 7. Oktober. Afghanistan war damals bereits das meistverminte Land der Welt.
Eine der wichtigsten Forderungen aber, die Azadine besonders am Herzen liegen, ist die, dass die Länder, die 23 Jahre lang ihr Land zerstört haben, die Länder, die Bin Laden und die Taliban erfunden, aufgebaut und unterstützt haben und nach Afghanistan geschickt haben, und all die anderen Länder, die dabei zugesehen haben – ja, Deutschland auch – endlich den Afghaninnen und Afghanen helfen, wieder auf die eignen Füße zu kommen.
Das passiert doch schon, sagen Sie? Davon merken Azadine und ihre Freundinnen aber nichts. Von dem versprochenen Geld fließt nämlich kaum etwas nach Afghanistan. Den Hilfsorganisationen sind die Hände gebunden. Die Wege werden belagert. Wer sich dennoch hinauswagt, wird überfallen und unter Umständen ermordet. Selbst die Hilfskonvois haben Probleme durchzukommen. Die wenige Hilfe, die ankommt, konzentriert sich auf Kabul. Im Rest des Landes herrscht Anarchie. Die Frauenministerin und die anderen Minister der Übergangsadministration haben kein Geld und können nicht arbeiten.
Derweil sterben Menschen, weil sie auf Minen treten, sie sterben vor Hunger, weil sie ausgeraubt und getötet werden oder weil sie krank sind und keine ärztliche Hilfe bekommen. Derweil verkaufen Frauen ihre Körper und ihre Kinder, damit sie selber und der Rest ihrer Kinder überleben.
Afghanistan ist noch nicht gerettet, und Azadine findet, dass wir, die Menschen im Westen, jetzt an der Reihe sind.
Und dann will Azadine, dass ich Ihnen noch unbedingt den letzten Punkt ihrer Liste nicht vorenthalten soll. Da steht: Liebe Menschen, liebe Frauen und Männer im Westen, bitte, seid wachsam. Im Namen des Kampfes gegen Terrorismus werden nämlich Eure Demokratie und Eure Freiheiten, die übrigens auch Ihr mit Krieg und Blut bezahlt habt, gerade Stück für Stück beschädigt. Sie sagt: Der 11. September hat einmal mehr gezeigt, wie klein die Welt ist und wie sehr alles mit allem zusammenhängt. Ehrlich gesagt, und um auch mal was zu sagen, ich glaube, Azadine hat Recht.
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