Scharia als Fessel und Chance

Ein Blick in die Runde: Über das islamische Recht und seine verschiedenen Interpretationen in der muslimischen Welt
von URSULA SPULER-STEGEMANN

Jede Gesellschaft und jede Religion muss sich nicht zuletzt daran messen lassen, wie sie mit den Frauen umgeht. Das gilt auch für die Muslime und die verschiedenen Interpretationen des Islam.

Die Scharia regelt das Verhältnis der Menschen zu Gott und das Verhältnis der Menschen untereinander. Die fünf Säulen des Islam gehören zur Scharia genauso wie gesetzliche Bestimmungen. Während die Musliminnen religiös zwar als gleichwertig gelten, werden ihnen im sozialen Leben die gleichen Rechte vorenthalten. So haben die Männer wegen ihrer verantwortungsvolleren Pflichten – Versorgung der Familie, Außenweltkontakte und Schutz des Vaterlands – auch die größeren Rechte beispielsweise auf Scheidung. Dieses Gerechtigkeitsverständnis ist aus westlicher Sicht mehr als fragwürdig, weil es gegen das Gleichheitsprinzip aller Menschen verstößt. Die Breite der Interpretationen von Koranversen und Sunna, auf die sich die Scharia-Gesetzgebung stützt, reicht – um es am Beispiel der Gleichberechtigung von Mann und Frau zu demonstrieren – von deren Bejahung bis zu ihrer völligen Unterdrückung. Erstere stützt sich darauf, dass Gott die Menschen „aus einem Wesen“ (Sure 4, 1) und „zu Paaren“ geschaffen habe; die letzteren stellen den Mann über die Frau und sehen in einem Dreistufensystem zur Bändigung aufmüpfiger Frauen die Erlaubnis diese zu schlagen (Sure 4, 34). Es gibt aber auch Theologen, die den einschlägigen Koranbegriff „schlagen“ lieber mit „bestrafen“ übersetzen – oder als „berühren mit dem Taschentuch“. Varianten gibt es viele, Interpretationen zugunsten der Frauen allerdings nur selten.

Die Gesetzgebung der verschiedenen islamischen Länder stützt sich auf die Scharia, je nach Interpretation von Koran und Sunna schließlich außerdem auf Fallentscheidungen der jeweiligen Rechtsschule und die auf dieser Grundlage aufbauenden Fatwas, die religiösen Gutachten der Muftis. Deren Beurteilungen divergieren erheblich. Dehnbar wie ein Netz ist die Scharia; dennoch für die Legitimation und Durchsetzung selbst gegenläufiger Gesetze und der Menschenrechte unabdingbar. Von der Frage, ob sie sich als anpassungsfähig genug erweist, hängt die Zukunft unseres Zusammenlebens ab. Für die Musliminnen ist sie von größter Bedeutung.

Einen Islam ohne Scharia kann es nicht geben. Dass ein Staat mit islamischer Bevölkerung auch ohne den Einfluss religiösen Rechts bestehen kann, beweist bislang allein die Türkei. 1926 erfolgte unter Kemal Atatürk der radikale Schnitt mit der Übernahme des Schweizer Zivilrechts und 1928 mit der Streichung des Artikels der Verfassung, dass die Religion des Staates der Islam sei. Die soziale Gleichberechtigung der Frauen, Monogamie, das Scheidungsrecht für Frauen sowie aktives und passives Wahlrecht waren hinfort leicht durchzusetzen.

Mit geschicktem Taktieren unter tatsächlich nur rein formaler Einbindung der Scharia durch Einholen von Fatwas staatlich besoldeter Muftis gelang es Habib Bourgiba (1957–87) in Tunesien, die Gleichberechtigung in der Verfassung zu verankern. Auch das Frauenwahlrecht wurde den Tunesierinnen früher zuteil als den Schweizerinnen; das gilt im Übrigen auch für Ägypten und für die Türkei. Dass es insbesondere in ländlichen Gebieten nach wie vor zu drastischen Benachteiligungen der Frauen und auch zur Vielehe kommt, schmälert nicht die Verdienste des tunesischen Staats, der die Erfahrungen der französischen Kolonialzeit im Sinne der Frauen positiv umsetzen konnte. Doch weder Tunesien noch das von Alawiten regierte Syrien, weder der Irak oder sonst ein islamischer Staat wagt es, in seiner Verfassung auf die Erklärung zu verzichten, dass der Islam Staatsreligion ist. Sogar der Irak hat nach dem iranisch-irakischen Krieg die Vielehe zur Versorgung der Kriegswitwen und -waisen wieder zugelassen und damit sein ursprüngliches Konzept selbst unterlaufen.

Andere Staaten, wie Saudi-Arabien, behandeln die Frauen wie Eigentum der Männer, das man beliebig weggeben oder austauschen kann. Im Iran gar ist nach der Revolution neben der Polygynie die „Ehe auf Zeit“ wieder aktiviert worden, die für Fristen von einer Stunde bis zu 99 Jahren abgeschlossen werden können; dies sei wie das „Leasing eines Autos“, definierte dies ein ranghoher iranischer Würdenträger; Sunniten lehnen diese Eheform allerdings ab.

Auch Staaten mit vergleichbarem historischen Hintergrund und ähnlich kolonialer Sozialisation haben dennoch unterschiedliche Wege beschritten. Marokko bezeichnet sich als konstitutionelle, demokratische und soziale Monarchie; der König ist laut Verfassung „Hüter des Islam“. Der Fortschritt beschränkt sich darauf, dass die Hinzuheirat weiterer Frauen untersagt ist, wenn eine Ungleichheit in der Behandlung der Frauen zu befürchten oder nicht durch den Ehevertrag ausgeschlossen ist. Seit 1993 muss der Ehemann sogar die Erstfrau von seiner weiteren Heiratsabsicht unterrichten, widrigenfalls kann sie die Scheidung beantragen. Solche Modifikationen können die Frauen aber nur durchsetzen, wenn sie lesen können; in Marokko ist dies höchstens ein Drittel, in manchen anderen Ländern ein Viertel und weniger.

Frauen haben sich in Widerstandsbewegungen gegen Kolonialherren engagiert und Beachtliches geleistet. Die Algerierinnen haben todesmutig den Kampf gegen die Franzosen unterstützt, geholfen hat es ihnen in ihrem politischen Status aber nur vorübergehend. Dort, wo Frauen massiv benachteiligt werden, setzen sich bisweilen auch Männer für deren Rechte ein. So waren auch die ersten islamischen Frauenrechtler Männer, bevor sich insbesondere in Ägypten die ersten islamischen Frauenrechtlerinnen organisierten. Iranische Männer erstritten in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit das Wahlrecht für Frauen. Die Mullahs unterbanden jedoch immer wieder Fortschritte, etwa im Scheidungsrecht. Viele Frauen, die sich für den Sturz des Schahs und die iranische Revolution einsetzten, mussten zusehen, wie ihnen ihre bereits errungenen Freiheiten wieder genommen und sie hinter den Tschador verbannt wurden – das Hervorlugen einer Haarlocke oder der Besuch eines Fußballspiels muss heute schon als Sieg gefeiert werden.

Viele Berufe müssen bis zu einem gewissen Grad zweigleisig gefahren werden, auf der männlichen und auf der weiblichen Schiene, etwa in Krankenhäuser, Schulen oder Universitäten. Fast immer ist es aber so, dass letztendlich die Männer die Führungspositionen einnehmen.

Die Frauen – und nicht zu vergessen: auch die Männer – sind nicht nur den staatlichen Gesetzen unterworfen, sondern auch der Tradition. Der Sittenkodex, der die Ehre der Männer über das Hymen ihrer Töchter definiert, wird auch von Christen im Orient hochgehalten. Zwangsheiraten sind immer noch weitgehend gebräuchlich und werden oft von Hodschas gefördert – obwohl nicht von der Religion gestützt. Die grausame Mädchenbeschneidung – vor allem, aber nicht nur im mittleren Afrika –, bei der bis zu 98 Prozent der Frauen verstümmelt werden, wird auch von Anhängern der Stammesreligionen und von christlich-koptischen Stämmen in Ägypten durchgeführt. Obgleich in Äthiopien noch 90 Prozent der Frauen beschnitten sind, soll in Eritrea, wo die Frauen beruflich und militärisch einsatzfähig sein müssen, diese Unsitte weitgehend zurückdrängt worden sein.

Dass Frauen aber selbst in einem Land wie Marokko Karriere machen können, beweist die berühmte Soziologieprofessorin und Autorin Fatema Mernissi. Gebildete Frauen der Oberschicht sind auch in der Männerwelt geachtet, werden allerdings von den Frommen misstrauisch beäugt.

Bildung vermittelt Selbstbewusstsein. Solange den Musliminnen ihr Menschenrecht auf Bildung vorenthalten wird, wird sich die Männerdomäne halten können. Jordanien mit nur noch 17 Prozent Analphabetinnen ist positiver Vorreiter. Obgleich Frauen in allen islamischen Parlamenten noch deutlich unterrepräsentiert sind, wurden in der Türkei, in Pakistan, in Bangladesch und in Indonesien Frauen Ministerpräsidentinnen, während in katholischen europäischen Ländern und in den USA überhaupt noch keine Frau regierte. Ministerinnen finden wir in Ägypten und in anderen islamischen Staaten. Selbstbewusste, gebildete Frauen haben in der islamischen Welt Chancen. Frauen haben in Bangladesch bei einem privaten Wirtschaftsförderungsprogramm bewiesen, dass sie auch unter härtesten Bedingungen selbstständig, verlässlich und kreativ arbeiten, sogar produktiver sein als die Männer.

Die Kraft der islamischen Länder liegt in der Kraft der Frauen. Sie haben am meisten zu gewinnen, wenn es vorwärts gehen soll. Diese Erkenntnis hat sich allerdings noch viel zu wenig durchsetzen können und kann auch nur dort obsiegen, wo die gesellschaftlichen Rechte der Frauen nicht mehr durch die Scharia beschränkt werden.