Totalitarismustheorie revisited

Kehren nach dem 11. September die Feindbilder zurück? Ian Buruma und Avishai Margalit meinen, dass die westliche Stadt das Ziel aller antiliberalen Bewegungen ist: von Hitler über Mao bis Bin Laden. Denn die Stadt ist unheroisch, verführerisch und lasziv. Das klingt plausibel – und ist viel zu einfach

Ihr blinder Fleck bleibt der Reichtum des Westens, die Armut des Orients

von STEFAN REINECKE

Gesellschaften, die angegriffen werden, verengen ihren Blick. Die Welt, die zuvor vielgestaltig, bunt und widersprüchlich erschien, wird abrupt in ein Wahrnehmungsmuster gepresst, in dem nur noch wir und der Feind zu existieren scheinen. Schwarz und Weiß – und wenig Grau. George W. Bushs markiger Satz, dass im Krieg gegen den Terror gelte, wer nicht für uns ist, ist gegen uns, bringt diesen Prozess in kindlich schlichter Weise auf den Punkt. Diese Komplexitätsreduzierung dient der eigenen Entlastung: Der Angriff hat das kollektive (Selbst-)Bewusstsein, die Gewissheit, über den eigenen Körper und das eigene Leben souverän zu verfügen, skandalös erschüttert. Indem man einen Trennungsstrich zwischen dem Wir und dem Anderen zieht, vergewissert man sich seiner selbst.

So wird seit dem 11. September über die Wiederkehr der Feindbilder debattiert, sogar der eingemottete Begriff des „Bösen“ wurde in manchen Leitartikeln wiederbelebt. Braucht der Westen den Islamismus als neuen Feind? Schließen die Bilder, die wir uns vom Orient machen, noch immer an jene Ideologie des „Orientalismus“ an, die Edward Said vor fünfundzwanzig Jahren als rassistisch getrübten Blick dingfest machte? Oder braucht umgekehrt der radikale Islam den Westen als übermächtig gezeichneten Gegner?

Der Schriftsteller Ian Buruma und der Philosoph Avishai Margalit haben einem Essay verfasst und unter den Titel „Occidentalism“ gestellt (veröffentlicht in New York Rewiew of Books, nachgedruckt im April-Heft des Merkur). Der Titel ist eine Antwort auf Edward Saids „Orientalism“ von 1979, eine Studie, wie imperiale Strategie und westliche Kultur, wie Literatur, Kunst und koloniale Eroberung zusammenwirkten.

And now: The empire strikes back? So platt ist es nicht. Margalit ist ein israelischer Moralphilosoph, der sich für die Verständigung in Nahost engagiert, Buruma hat eine profunde Untersuchung über die Erinnerungskultur in Japan und Deutschland geschrieben. Beide sind renommierte, liberale Intellektuelle, unverdächtig, westliche, gar rassistische Überlegenheitsgefühle zu hegen. Und trotzdem ist dieser schillernde Text auf eine typische Weise gescheitert.

„Der Okzidentalismus, die Ideologie der Attentäter vom 11. September, ist eine Gemengelage aus Bildern und Begriffen“, schreiben sie. Der entgrenzte Hass gilt „der Stadt, der urbanen Zivilisation: dem Handel, der künstlerischen Freiheit, gemischten Bevölkerungen, der sexuellen Freizügigkeit, dem wissenschaftlichen Forschungsdrang, dem Wohlstand“. Das ist die zentrale These: Die antiliberalen Bewegungen des 20. Jahrhunderts verbindet diese Klammer. Von Hitler bis Mao, von den japanischen Faschisten bis zu den Roten Khmer und al-Qaida – stets war der Feind „die moderne Großstadt, die die glitzernde Hurerei des Westens verkörpert“. Kein Wunder, dass Bin Laden Manhattan, Inbegriff des westlichen Urbanen, zum Ziel machte. „Die Nazis, Pol Pot, Mao und die Taliban versuchten eine reine bäuerliche Gegenwelt zu schaffen, verbunden mit der Scholle.“

Klingt einleuchtend. Alle doktrinären Bewegungen und Regime entwickeln Reinheitsideen. Und immer ist das Ziel, so Buruma/Margalit, der Bürger, der zivile Tugenden pflegt und dem das heroische Opfer fremd ist, die Stadt als babylonischer Verführungsort, die Frauen, die das todeslüsterne Machogehabe stören, und der Markt, die große Gleichheitsmachine.

Aber ist, was ähnlich aussieht, auch das Gleiche? Wirken bei afghanischen Jugendlichen, die nichts außer endlosem Bürgerkrieg kennen, und deutschen Nazis, die die Welteroberung planen, die gleichen Motive? Kann man die Vertreibung und Ermordung der Chinesen in Kampuchea mit dem Holocaust kurzschließen? Haben die antikapitalistischen Affekte der Nazis und die extremistische Anti-Markt-Praxis der Roten Khmer wirklich viel gemeinsam?

Buruma und Margalit rauschen mit Siebenmeilenstiefeln durch die Weltgeschichte, und der Kompass zeigt ziemlich verlässlich immer in die gleiche Richtung: hier der liberale Westen, dort doktrinäre, atavistische Bewegungen. Dieser Konflikt erscheint als Motor der Historie, als zentrale Kampflinie, an dem sich Wohl und Wehe scheiden. So reduzieren sich komplexe Zusammenhänge auf ein Muster. Wie verführerisch solche weiträumigen Schemata sind, zeigte kürzlich ein Feuilletonist, der diese These einfach weiterdachte: antibürgerlich, gegen den Markt, gelegentlich schwärmerisch für das Land – das trifft doch irgendwie auch auf Globalisierungsgegner zu. In dieser Lesart wandelt sich das offene Haus der liberalen Gesellschaft in einen Festungsturm: Von dort aus betrachtet schrumpft der Unterschied zwischen zivilem Protest gegen Marktradikale und Terroristen endlich zusammen.

„Es gibt keinen Kampf der Kulturen. Spielarten des säkularen Faschismus können in allen Kulturen auftauchen“, betonen die Autoren in plakativer Abgrenzung zu dem Samuel Huntington entlehnten Kampfbegriff. Damit ist rhetorisch für Ausgewogenheit gesorgt, so wird vermieden, das Liberale als Besitzstand des Westens und Inbegriff von dessen Überlegenheit zu etikettieren.

Irritierend sind gleichwohl die großräumigen historischen Analogien. Von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs führt ein gerader Weg über die Kamikaze-Flieger zu al-Qaida. „Zurzeit ist der Todeskult ein Virus, der aus verschiedenen historischen und politischen Gründen in besonderem Maße unter Islamisten gedeiht.“ Diese Analyse knüpft an die dunkle Hypothese vom Todestrieb an, die Freud 1920, beeinflusst von den Verheerungen des Ersten Weltkriegs, entwickelte. Das passt zum überhistorischen Gestus von Buruma/Margalit. Aber woher rührt dieser Kult des Selbstopfers? Ist die Vokabel „Todeskult“ mehr als eine säkulare Chiffre für das Böse?

Zielpunkt dieser Tour d’Horizon ist eine Art kulturelle Totalitarismustheorie – und dabei trübt die handstreichhafte Parallelisierung den genauen Blick. Die Taliban sind ein Ergebnis des Kalten Krieges, ein grässliches Produkt auch der Politik der USA. Nicht zufällig fehlt dieser Hinweis bei Buruma/Margalit: Diese Verstrickung in den Fokus zu nehmen, würde die schroffe Gegenübersetzung von zivilem, aufgeklärtem Bewusstsein und neurotischer Aggression stören.

Als Triebfeder aller terroristischen und antiliberalen Revolten firmiert der „Hass auf den Westen“. So instrumentieren Burama/Margalit ihre These vom Kampf des irrationalen Todessüchtigen gegen den vernünftigen Westen. Aber stimmt es? Wenn man die Geschichte von al-Qaida und den Taliban betrachtet, höchstens halb: Der Gewaltmarkt Afghanistan war ein rationales Selektionsinstrument: Nur eine Organisation, die im richtigen Moment die richtigen Symbole besetzt, wurde finanziert. Auch die Terrorziele von al-Qaida wechselten nach politischer Konjunktur: mal Ägypten, mal Russland, mal Saudi-Arabien. „Die große, gewaltsame Wirkung der Taten von al-Qaida zeugt von kühler Planung, nicht von heißem Hass. Diese Kühle ist unser Problem“, schreibt der Soziologe Georg Elwert. Moderne Vernunft hier, irrsinniger, machistischer Hass dort – dieses Schema verteilt die Ratio allzu übersichtlich.

Josef Joffe erklärte die Terroristen in der Zeit nach dem 11. September für „das Böse schlechthin“: Wer jetzt über Armut oder den Nahostkonflikt reden wolle, entschuldige die Täter. Denn das Böse hat keinen Kontext, es ist, seit der Vertreibung aus dem Paradies, einfach da, es erklärt sich aus sich selbst. Wenn man es nicht mit einem Gegner, sondern mit der irdischen Form des Teufels zu tun hat, gilt auch kein Gesetz und keine Haager Landkriegsordnung. Die Rhetorik des Bösen führt geradewegs nach Guantánamo.

Die Rede vom Bösen ist antiliberal. Denn das Böse existiert nur mit seinem Konterpart, dem Guten, der Rolle, die uns, den liberalen Westlern, zufällt. Doch das Bewusstsein, die Bastion des Guten zu bilden, zerstört den produktiven Kern des Liberalen: die Fähigkeit zu endloser Selbstüberprüfung und Korrektur.

Für solche Versteinerungen, für solche wasserdichte Schwarzweißraster sind Buruma/Margalit zu klug. Sie warnen die liberale Gesellschaften vor Kreuzzugsdummheit und der Gefahr, sich von der Lagermentalität der Terroristen infizieren zu lassen.

Ihr blinder Fleck bleibt die Ökonomie, der Reichtum des Westens, die Armut des Orients. Man muss keineswegs der linksevangelischen These anhängen, dass der 11. September als eine Art Strafe für die Sünden des Westens zu verstehen sei. Das ist in mehrfach Hinsicht eine Verwechselung: Es vertauscht Angreifer und Angegriffene. Es unterstellt den Terroristen, denen Verteilungsgerechtigkeit herzlich gleichgültig ist, falsche Motive. Und zudem verschiebt das Strafe-Sühne-Muster das Politische ins Religiöse.

Und doch ist Bin Ladens Resonanz in der islamischen Welt ohne globale Gerechtigkeitslücke nicht zu begreifen. Das klingt banal – doch es zu vergessen, hat drastische Wirkungen. Wer nur von westlichen Werten, aber nicht von Ökonomie und Interessen redet, lügt.