: Gemeinsinn auf ganz eigene Art
aus Durham MICHAEL STRECK
Unmittelbar nach dem 11. September fuhr Doug Baker in ein Waffengeschäft. Irgendeine Stimme sagte ihm, mehr und bessere Waffen bedeuteten auch mehr persönliche Sicherheit – ein Impuls, den viele andere Amerikaner mit ihm teilten. Wer den gemütlichen Baker mit der Katze auf seinem Schoß sieht, käme nicht auf die Idee, dass in seiner Jackentasche womöglich ein nagelneues Schießeisen steckt. Doch Baker hat viel zu beschützen vor dem neuen unsichtbaren Feind: sein Hotel, das Hickory Pond Inn, den Golfplatz und die frisch geborenen Lämmer.
„Live free or die“ – so steht es als Motto der Bewohner New Hampshires auf jedem Auto-Nummernschild und so meinen sie es auch hier im Norden, kurz vor der kanadischen Grenze. Sie sind stolz, eine republikanische Enklave inmitten demokratisch wählender Nachbarn zu sein. New Hamsphire war schließlich auch die erste Kolonie, die im Jahre 1774 ihre Unabhängigkeit von England erklärte.
In seinem früheren Leben war Doug Baker Pilot. Der knollige, etwas untersetzte Mann mit dem buschigen Schnauzer liebt Flugzeuge und das Fliegen. In seinem Büro im Pond Inn stehen alle Modelle der Northwest-Airlines-Flotte. Er flog den Jumbojet und saß im Cockpit von Aufklärungsflugzeugen über Vietnam. Leute wie er kennen von Deutschland vor allem Ramstein. Vor einigen Jahren habe Baker dann aufhören müssen zu arbeiten, erzählt Beth Parker, die Hotelmanagerin. Man erzählt sich von traumatischen Kriegserfahrungen, die ihn angeblich flug- und arbeitsunfähig gemacht hätten. Aber mit der üppigen Pension kann er das Hotel finanzieren, es auch durch magere Zeiten bringen. Wie jetzt.
„So etwas musste mal passieren“
Im ausklingenden Winter ist hier im südlichen New Hampshire, wo in den USA einst Textilfabriken das Industriezeitalter begründeten und der Schriftsteller John Irving seine Kindheit verbrachte, nie viel los. Schmutzige Schneehaufen liegen an den Straßenrändern, die Bäume sind kahl, und Nebel zieht öfter vom nahen Atlantik herüber. Hauptsaison ist im Spätsommer und Herbst, wenn der berühmte „Indian Summer“ mit seiner rot-goldenen Blätterpracht die Touristen aus dem In- und Ausland lockt. Doch seit September bleiben die Gäste aus. Vielen Amerikanern ist die Reiselust vergangen. „Wir haben über 20 Prozent weniger Besucher. Aber wir stehen noch gut da, woanders sind es 40 Prozent“, sagt Beth Parker. Sie könne die Leute verstehen. Auch sie habe seitdem kein Flugzeug mehr bestiegen.
Im letzten Sommer hat Beth Parker noch einmal neu angefangen. Sie gab den alten Job auf, um in der Nähe ihres kranken Sohnes zu sein, und entdeckte das altehrwürdige Hickory Pond Inn in Durham. Und Doug Baker. Er hält das über 200 Jahre alte Haus außen zusammen, sie innen. Solange sie die Geschäfte führt, muss sich Baker keine ernsthaften Sorgen machen. Doch Beth Parker macht sich Sorgen um ihn. Baker sei misstrauischer geworden. Manchmal stehe er plötzlich auf, verschwinde, weil ihm etwas verdächtig vorzukommen scheint. Das könne aber auch mit Vietnam zu tun haben, sagt sie. Und wer wisse schon, was in einem Menschen vorgeht, dessen zwei Söhne früh starben und der seinen Bruder im Koreakrieg verlor. Und nun noch der 11. September.
Beth Parkers Einstellung zu den Terroranschlägen ist ungewöhnlich. Anders als die meisten Amerikaner ist sie nicht ganz so überrascht gewesen. „So etwas musste einmal passieren. Irgendwo hat unsere Ignoranz und Arroganz gegenüber der Welt damit zu tun.“ Aber Beth Parker mag auch kein US-Fernsehen, Fastfood und den Vergleich mit Pearl Harbor. Ein Wunder, dass sie und Baker unter einem Dach arbeiten können. „Über Politik reden wir nicht, nur über die Arbeit“, sagt Beth. Denn Doug Baker ist ganz der überzeugte Patriot, der Sätze sagt wie „Amerikaner lieben Amerikaner jetzt noch mehr“ und hinzufügt, dass man Fremde jetzt genauer unter die Lupe nehmen müsse. Das sagt einer aus New Hampshire, wo es kaum eine andere Hautfarbe außer Weiß gibt und das nächste Chinarestaurant in Boston ist. Und aus einer Nation, wo der Begriff Ausländer nicht wirklich existiert. Wo jeder Fremde immer ein potenzieller Einwanderer und damit Amerikaner ist. Wo die Frage „Wo kommst du her?“ Neugierde und nicht Ausgrenzung bedeutet.
George kommt aus North Carolina, wo die Gebrüder Wright im Jahre 1903 erstmals den Traum vom Fliegen wahr machten. Das ist von Durham ungefähr so weit weg wie Sofia von Berlin. Wenige Tage nach dem 11. September war die Fluglinie, für die er bis dahin gearbeitet hatte, pleite und er arbeitslos. Nach wochenlanger Suche fand er einen Job: in New Hampshire.
Die Strecke nach Hause fliegt er nun mindestens zweimal täglich, das Wochenende verbringt er bei Frau und Kind, die restlichen Abende mit Beth Parker und Doug Baker. Und er ist nicht der einzige, den dieses Schicksal ereilt hat. Da sich das Hickory Pond Inn in der Nähe des Heimatflughafens der expandierenden Fluggesellschaft PanAm befindet, für die auch George jetzt fliegt, ist es mittlerweile zu einer Art Pilotenkommune geworden. Baker spielt den Übervater und Beth Parker ist die gute Seele. Beim Abendessen sitzen sie dann zusammen und erzählen sich von den alten Tagen, als das Fliegen noch Spaß gemacht hat. Denn auch für Piloten sind die neuen Sicherheitsbestimmungen eine Qual. „Viele Kontrollen sind purer Schwachsinn und nicht mehr nachvollziehbar“, klagt George. Selbst er und seine Kollegen müssten bereits eine Stunde vor Dienstbeginn am Gate sein, um überprüft zu werden.
Wenn George dann endlich in seinem Aluminiumvogel sitzt und das Pond Inn unter ihm verschwindet, erscheint seine Boeing 727 als grüner Punkt auf dem Radarschirm im Flugkontrollzentrum Nahsua wenige Meilen entfernt von dort, wo Baker gerade mit seinem Traktor den Golfplatz mäht. Vielleicht hat gerade Fluglotse Tom Roberts Dienst, so wie damals am 11. September, und teilt ihm per Funk mit, welche Route er fliegen soll.
„Ich dachte, die Zeit bleibt stehen“
Seit über zehn Jahren arbeitet Roberts in dem schwer bewachten bunkerähnlichen Gebäude ohne Fenster und überwacht den Luftraum über Boston und New York, 6.000 bis 7.000 Flugzeuge am Tag. Er und seine Kollegen waren am 11. September die ersten, die per Funk von der Entführung der Maschinen erfuhren und die US-Luftfahrtbehörde alarmierten. Sie waren es auch, die entdeckten, dass die Entführer Kurs auf den Hudson River nahmen, hilflos die grünen Punkte sich der Skyline von Manhattan nähern sahen, bis schließlich der Kontakt abbrach. „Ich dachte, die Zeit bleibt stehen“, sagt Roberts.
Aber es kam noch schlimmer. Fassungslos starrten die Fluglotsen auf ihre Monitore, als sie erfuhren, dass die Frau eines Kollegen in einem der entführten Flugzeuge saß. „Wir mussten fast körperliche Gewalt anwenden, um ihn von seinem Arbeitsplatz fernzuhalten. Wenn du dann begreifst, dass du die letzte Person bist, die noch Kontakt zu dem Flugzeug hat, wirst du spätestens in dem Moment religiös.“ Wenige Minuten später kam aus Washington der Befehl, dass alle Flugzeuge im US-Luftraum landen sollten. Ein bislang einmaliger Notfall in der Geschichte des Landes. Roberts und sein Team mussten einen klaren Kopf behalten und tausende Maschinen innerhalb von zwei Stunden zum nächsten Flughafen lotsen. „Ich weiß bis heute nicht, wie wir das geschafft haben.“
„Da stecken Menschen dahinter“
Für Tom Roberts ist die Welt eine andere geworden. Stimmen, Schreie, dramatische Funksprüche und hilfloses Entsetzen haben sich in seinen Kopf und sein Herz gegraben. Oft kann er nachts nicht schlafen, träumt verrückt. Seine Frau hat Angst, so absurd das klingen mag, dass er in seiner Uniform leichter zum Ziel eines Anschlages werden könnte, und will nicht mehr, dass er auf Dienstreisen fliegt. Roberts spricht mit aufgewühlter Stimme und hat Mühe, seine Tränen zu unterdrücken. Er wisse heute, wie fragil das Leben sei, wie schnell sich alles verändern könne. Die Arbeit, die Kollegen hätten eine größere Wertschätzung bekommen. „Die Punkte auf dem Radarschirm sind nicht länger einfach nur Zeichen. Da stecken jetzt immer Menschen dahinter.“
Zwei Tage war der komplette Luftraum über den USA gesperrt. Als dann die ersten Maschinen wieder aufsteigen durften, erzählt Roberts, sei es wie ein trotziger Triumph gewesen, der der Welt gezeigt hätte, dass man sich nicht von Terroristen in die Knie zwingen lässt. Seither hat eine Terrorwarnung die andere abgelöst und befinden sich die Lotsen in erhöhter Alarmbereitschaft. Die Überwachung des zivilen Luftverkehrs über den USA hat den Charakter von Landesverteidigung bekommen.
Manchmal wollen jedoch auch Fluglotsen und Piloten die Last der neuen Verantwortung vergessen. Sie könnten in die nächste Kneipe gehen, aber die Zapfhähne versiegen hier bald nach Einbruch der Dunkelheit. Oder sie fahren ins Hickory Pond Inn, dieses ungewöhnliche Hotel in New Hamsphire, aus dem Beth Parker und Doug Baker jetzt auch noch ein Community-Center machen und zu Live-Jazz und Wein laden. Der neue Gemeinschaftssinn und Dienst am Nächsten, den US-Präsident George W. Bush im fernen Washington seinem Volk seit Beginn der neuen Zeitrechnung immer predigt, wird hier auf ganz eigene Art bereits gelebt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen