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Eine ganz unmögliche Bildungsstätte

Erfolgsgeschichte trotz vieler Widersprüche: Heute kann die Jüdische Volkshochschule im Charlottenburger Gemeindehaus den 40. Geburtstag feiern

Auf die Frage, ob eine jüdische Volkshochschule in Deutschland einmal eine „normale“ Institution werden könnte, erzählt Nicola Galliner eine Geschichte: Ende der 80er-Jahre kam ein pensionierter Rabbiner aus den USA zu ihr. Der Geistliche machte einen Trip durch ganz Europa und wollte wissen, was man in Berlin an Jüdischem in zwei Tagen sehen könnte. Sie gab ihm Tipps und sagte, er solle wiederkommen, wenn er Probleme habe. Am nächsten Tag stand er vor der Tür: zitternd, geschockt. Er hatte Bilder vom Weggang des Rabbiners der Ostberliner Gemeinde als erste Meldung in der „Tagesschau“ gesehen, aber nichts verstanden und gedacht: Es muss was Schreckliches mit ihm passiert sein. Nicola Galliner versuchte, zu beruhigen, sagte, es sei nichts Schlimmes geschehen, der Ostberliner Rabbiner sei nur gegangen. „Das kann nicht sein“, sagte sein amerikanischer Kollege: „Wenn ich eine Gemeinde verlasse, melden das doch nicht die Nachrichten!“ Der Amerikaner ließ sich von Nicola Galliner die Telefonnummer der Israelischen Botschaft geben: Er wollte dort überprüfen, ob sie ihn belogen hatte.

Nicola Galliner ist Leiterin der Jüdischen Volkshochschule in Berlin, die heute 40 Jahre alt wird. Wenn sie mit einem leichten englischen Akzent von ihrer Arbeit und den vergangenen Jahrzehnten der Volkshochschule erzählt, spickt sie jeden zweiten Satz mit einer geistreichen Anekdote, einem jüdischen Witz oder einem Wortspiel, das ihr spontan eingefallen ist: Wahrscheinlich muss man so viel Esprit mitbringen, um diesen Job überhaupt zu machen.

Denn diese für die jüdische Gemeinde so wichtige Institution lebt in Widersprüchen, die es für eine solche Akademie nur auf deutschem Boden geben kann: Einerseits will sie den ganzen Reichtum des heutigen Judentums darstellen, andererseits drängt sich die Schoah als Thema gerade in Berlin immer wieder auf. Zwar will die Volkshochschule auch oder manchmal vor allem die Gemeindemitglieder fortbilden – und doch gehören im Schnitt etwa drei Viertel der Besucher der Gruppe der gesellschaftlich mehr als dominanten Nichtjuden an. Einerseits erreicht die Volkshochschule die meisten Zuhörer aus jüdischen Kreisen, wenn, wegen der vielen russischsprachigen Zuwanderer in der Gemeinde, die Veranstaltungen in Russisch ablaufen. Andererseits fördert dies gerade nicht die Integration und die Sprachkenntnisse der Juden aus den GUS-Staaten: Ein zentrales Ziel der Jüdischen Volkshochschule wird so eher verfehlt.

Eine unmöglicher Job? Zumindest lässt sich Nicola Galliner die Mühsal ihrer Arbeit nicht anmerken, was jeder merkt, der in die Räume der Jüdischen Volkshochschule im Gemeindezentrum an der Fasanenstraße kommt. Wie ein Wirbelwind rauscht sie, in meist wallende Kleidung gehüllt, durch die Gänge. Ein Energiebündel, beflügelt wohl auch vom Erfolg. Denn die Liste der Dozenten und Gäste der Volkshochschule schmückte jede Institution ungemein: vom Amos Oz bis Stefanie Zweig, von Iris Berben und Senta Berger bis Daniel Cohn-Bendit und Simon Wiesenthal.

Diese Prominentenreihe ist umso beeindruckender, als das Budget der Volkshochschule durchaus begrenzt ist: Nur etwa 1 Prozent des Gesamtetats der Gemeinde geht an die Akademie – eine Summe, mit der zwei Drittel der Ausgaben finanziert werden müssen. Seit ihrem Amtsantritt 1988 ist es Nicola Galliner gelungen, die Zahl der Hörerinnen und Hörer von etwa 4.000 im Jahr 1990 auf 5.000 im vergangenen Jahr zu erhöhen. Eine Steigerung um ein Viertel also.

Bei insgesamt vier Angestellten der Schule ist das wohl nur zu schaffen, wenn Begeisterung für die Sache die Arbeit beflügelt – und wenn Sache und Person etwas miteinander zu tun haben. So war das etwa bei Gad Beck, ihrem Vorläufer als Leiter der Schule. Von 1979 bis 1988 führte er die Bildungsstätte: ein gebürtiger Berliner, der im jüdischen Widerstand gekämpft hatte, Israeli wurde und so etwas wie der Vorzeigehomosexuelle der Gemeinde wurde. Ohne Abitur und Studium vermochte er als Leiter der Schule jung und alt mit seinem Witz und Geist zu beeindrucken. Auch Nicola Galliners Lebensgeschichte wurde durch die Schoah geprägt: Als Tochter Berliner Juden, die vor den Nazis flohen, wurde sie 1950 in London geboren, lebte jedoch immer wieder an der Spree. Berlin, sagt sie, sei ihr mittlerweile zur Heimat geworden – wohl auch, weil ihre Familie vor dem Krieg zu den bekanntesten in der damaligen Gemeinde gehörte.

So wird die Geschichte des Holocaust für sie und die Schule „ein Hauptthema“ bleiben, sagt Nicola Galliner. Eine Jüdische Volkshochschule werde auch in Zukunft so wenig „normal“ sein wie jüdisches Leben angesichts der Schoah in Deutschland dies sein könne. Aber ist das nicht ein Vorteil für eine Volkshochschule? PHILIPP GESSLER

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