Fromme Lügen für den Osten

Die Wahlkämpfer Stoiber und Schröder versprechen munter neue Investitionsprogramme für den Osten – auch für Hochschulen. Gleichzeitig streichen ihre Parteifreunde die Universitäten zusammen

von CHRISTIAN FÜLLER

Gerade noch hatte er wie ein Rohrspatz geschimpft. Doch dann gab sich der ältere Herr ganz sanft und mild. Wie schrecklich sei es doch, flötete Bayerns Wissenschaftsminister Hans Zehetmair (CSU), dass dem Osten die jungen Menschen davonliefen. Ganze Städte würden entvölkert. Gerade die jungen Leute sähen keine Perspektiven mehr und verließen die Gebiete jenseits der Elbe. Da müsse auf jeden Fall etwas getan werden.

Für einen Augenblick wurde es ganz still und andächtig im Keller der bayerischen Landesvertretung. Die anwesenden Journalisten blickten betroffen in ihre gefüllten Maßkrüge. Aus dem Nebenzimmer duftete schon der Schweinebraten. Die Kluft zwischen Arm und Reich war plötzlich spürbar. Der kulturvolle Bayer hatte die Mitglieder der „Wissenschafts-Pressekonferenz“ der Hauptstadt nämlich zu einem opulenten Mahl geladen. Der kann sich was leisten, werden sich die Journalisten gedacht haben, die sonst mit Schnittchen vorlieb nehmen müssen. Die Inszenierung des Abgesandten von Edmund Stoiber aus München war gelungen. Wenn einen wie Zehetmair der Osten dauert, dieser Eindruck gewann schnell die Oberhand, muss sich doch bald was tun! Da drüben im Osten! Wo zwölf Jahre nach der Wende Jugendliche praktisch keinen betrieblichen Ausbildungsplatz mehr bekommen. Wo in den einstigen Wissenschaftshochburgen Berlin und Sachsen wieder Hochschulinstitute schließen und Studienplätze abbauen. Und die Jugendlichen schlicht davonlaufen.

Zehetmair ist nicht allein. Die Wahlkämpfer haben den Osten entdeckt. Denn dort ist die begehrte Spezies der Wechselwähler zu Hause. Daher werden rechtzeitig vor dem Urnengang im September, der sich nach Ansicht der Demoskopen zwischen Rostock und Gera entscheidet, die Köder ausgelegt. Die CDU reiste nach Wörlitz (Sachsen-Anhalt), um ein gewaltiges Investitionsprogramm für Neufünfland zu beschließen – falls die Union die Regierungsgeschäfte übernehmen darf. Und die SPD fand sich in Magdeburg ein, damit sich ihr neues Förderkonzept besser verkaufen ließ: Milliarden für den Osten – wenn Gerhard Schröder weiter am Ruder bleibt.

Zur Überraschung des Publikums spielt bei den neuerlichen Geldversprechen aus dem Westen die Bildung eine Rolle. Die SPD findet, dass „die ostdeutschen Hochschulen künftig eine noch größere Bedeutung haben, wenn es darum geht, jungen Menschen in Ostdeutschland Chancen zu eröffnen“. Und die CDU will „durch den Ausbau von Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Fachhochschulen gezielt […] innovative Strukturen weiterführen.“

Das sind doppelt billige Wahlversprechen: Der Bund, dem Schröder und Stoiber vorstehen wollen, ist für die Bildungsausgaben in den Ländern nicht zuständig. Und wenn die Schulen verbessert, die duale Ausbildung auf neue Füße gestellt und an den Hochschulen mehr Studienplätze gewollt würden – warum das Gute dann nicht jetzt gleich tun? Was Schröder und Stoiber in Magdeburg und Wörlitz versprechen, ist das eine. Was sie und ihre Parteifreunde im Osten tun, ist das andere – zum Beispiel Sachsen-Anhalt und Sachsen.

Eben jener Mathematiker Reinhard Höppner (SPD), der am Samstag dem Genossen Schröder zum Geld für die Bildung applaudierte, fährt zu Hause einen rigorosen Kurs – in die andere Richtung. Höppner hat einen neuen Landeshochschulplan verabschieden lassen, der Studienplätze in seinem kargen Land nicht auf-, sondern abbaut. Die vermeintliche Stimme des Ostens bringt es fertig, der Lutherstadt Wittenberg zu ihrem 500-jährigen Universitätsjubiläum zu gratulieren – und parallel dazu die Zuschüsse für die dortige Hochschule so weit zu senken, dass sich die Uni-Oberen zu Kündigungen gezwungen sehen.

Im Nachbarland Sachsen hat man viel von Höppner gelernt. Auch dort steht ein Akademiker an der Spitze, der gern universitäre Jubiläen feiert. Aber Kurt Biedenkopf (CDU) griff dankbar Höppners Anregung auf – und richtete vor einem halben Jahr eine unabhängige Kommission ein: Externe Wissenschaftler wurden berufen, um dem Kabinett Argumente dafür zu liefern, dass die teuren Hochschulen endlich billiger werden. Nun kürzt das Land zwar nicht ein Drittel der Planstellen im Hochschulbereich, wie ursprünglich vorgesehen. Aber runde 1.000 Jobs (von 10.000) fallen weg – und damit Studienplätze.

Die Westler sorgen dafür, dass die kürzungsbereiten Ostler keinesfalls zum Luftholen kommen. Genau jener Hans Zehetmair, den die Abwanderung der Jugend angeblich so umtreibt, zieht gleichzeitig die Daumenschrauben an. Zusammen mit dem reichen Baden-Württemberg hat Zehetmair bei den Verhandlungen um die Leistungslöhne für Professoren dafür gesorgt, dass die neuen Länder in einen ruinösen Wettbewerb um Professoren getrieben werden. Wenn die Ost-Unis künftig gute Professoren bekommen wollen, müssen sie deutlich mehr bezahlen – und verpulvern so ihren klammen Wissenschaftsetat hauptsächlich für Gehälter.