: Wahre Propaganda
Als Stalin 1952 den Deutschen einen Friedensvertrag anbot, meinte er es ernst. Nur verstand er den Westen nicht. Neue Fakten zu einem alten Streit
von CHRISTIAN SEMLER
Bei den großen Debatten zur Zeitgeschichte ging es stets um mehr als rein historische Fragen – so beim „Historikerstreit“ der Achtzigerjahre oder der Auseinandersetzung um Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“. Welche Bedeutung sollte den Naziverbrechen für die gegenwärtige deutsche Identität zukommen, konnte es eine Historisierung der Nazizeit geben, und wenn ja, welche? Der Verlauf dieser Debatten hat uns vor Augen geführt, wie sehr die Fragen der Zeit die Ergebnisse der Geschichtsforschung bestimmen.
Genauso verhält es sich auch mit einer historischen Debatte, die seit den Fünfzigerjahren ständig neu aufflackerte, ohne dass es neue Quellen gegeben hätte. Die Rede ist von der Interpretation der Deutschland-Note, die Stalin im März 1952 an die drei westlichen Alliierten schickte. Er schlug vor, einen Friedensvertrag mit Deutschland abzuschließen. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hatte jedoch ihren Preis: die militärische Neutralität dieses neuen Deutschland.
Nur ein geschicktes Propagandamanöver, ein Appell an die „national denkenden Kräfte“, um in der Bundesrepublik dem Widerstand gegen Wiederbewaffung und Nato-Mitgliedschaft neue Nahrung zu geben? Oder ein ernst gemeintes Tauschangebot an den Westen?
Es lag auf der Hand, dass hinter dieser Interpretationsalternative eine politische Alternative stand. War man der Ansicht, die Stalin-Note habe ein ernsthaftes Angebot enthalten, so wäre damit die Verpflichtung Adenauers verbunden gewesen, dieses Angebot ernsthaft zu prüfen, sprich: die westlichen Alliierten an den Verhandlungstisch zu drängen. Ging es hingegen Stalin nur um propagandistisches Punktesammeln, so hat der Alte aus Rhöndorf gut daran getan, das Angebot aus dem Kreml achtlos beiseite zu schieben.
Wilfried Loth, Hermann Graml und Gerhard Wettig streiten schon seit Jahrzehnten um die Interpretation der Stalin-Note. Jetzt haben sie erstmals in Kenntnis der Akten des sowjetischen Außenministeriums eine neue Runde ausgefochten. Zur Hilfe kam den Historikern auch die Publikation des Tagebuchs von Wilhelm Pieck, damals amtierender KPD-Chef und später Präsident der DDR, sowie ein ganzer Stapel weiterer Quellen zur sowjetischen Deutschlandpolitik, die während der Neunzigerjahre in Deutschland und Russland veröffentlicht wurden. Im Ganzen also die lang ersehnte neue Quellenlage, die aber keineswegs dazu geführt hat, dass die Kontrahenten ihre Positionen wesentlich modifiziert oder gar angenähert hätten.
Dennoch ist die Neuerscheinung äußerst instruktiv und damit lesenswert – vor allem aus drei Gründen. Zum einen hat Loth die Akten des Außenministeriums übersetzt und in den Band übernommen, sodass seine Interpretation an der Quelle nachvollziehbar ist. Zum anderen antwortet Graml auf den Beitrag von Loth. Zudem stellt Wettig die aktuelle Auseinandersetzung in die historische Perspektive der gesamten sowjetischen Deutschlandpolitik (so wie er sie sieht) und öffnet damit wieder das weite Feld des historischen Meinungsstreits. Dem Leser wird keine Lösung vorgekaut, er pendelt womöglich unentschlossen zwischen den Interpretationen, muss selbst entscheiden, was wirklich in den Dokumenten steht, wie das, was dort steht, gemeint war, und schließlich: wie relevant es war für den politischen Entscheidungsprozess. Das heißt: noch mehr Lektüre, neue Unabwägbarkeiten. Aber dieses Ergebnis ist allemal besser als die Scheingewissheit einer abgedichteten Argumentation.
Was geben nun die neuen Akten des sowjetischen Außenminsteriums zur alten Frage der Ernsthaftigkeit des Angebots her? Wie wichtig war in Moskau die dritte (für Deutschland zuständige) Abteilung des Ministeriums? Bei diesen Fragen hängt Graml die Rolle der Experten, die die diversen Entwürfe für einen Friedensvertrag erarbeiteten, zu niedrig. Zwar hat Graml Recht, wenn er „die Instanz“, also Stalin, sekundiert von Molotow und dem übrigen Politbüro, als alleinigen Entscheidungsträger benennt. Aber Deutschlandexperten wie Wladimir Semjonow, der 1952 in der Partei überhaupt keine Rolle spielte, wurden mehrfach ins Politibüro zitiert, und Stalin erörterte mit ihnen Spezialfragen. Die mehrfache Überarbeitung des Vertragsentwurfs auf Weisung des Politbüros deutet darauf hin, dass die sowjetische Führung den Friedensvertrag westlichen Augen schmackhaft machen wollte. Auf alle Fälle sieht man in der Redaktionsarbeit das Bemühen am Werk, möglichst wenig Vorbedingungen zu stellen. Dass das Ganze mit dem Ziel des Scheiterns unternommen wurde, ist aus den Dokumenten eigentlich nicht ersichtlich.
Aber wussten die Sowjets nicht, dass bei den westlichen Alliierten die Westintegration bereits beschlossene Sache war, dass die Vereinigten Staaten und auch Adenauer freie Wahlen plus vollständige Entscheidungsfreiheit eines vereinten Deutschland für nicht verhandelbar hielten? Aus den Akten des sowjetischen Außenministeriums spricht hier eine realistische Sicht. Dennoch sah man es dort als nicht aussichtslos an, durch politische Mobilisierung der Deutschen und ein großzügiges Angebot die westlichen Alliierten unter Druck zu setzen.
Aus den Akten ist andererseits nicht ersichtlich, dass man in Moskau ernsthaft daran dachte, die DDR abzuschreiben. Solche Positionen existierten allerdings und wurden – unserem Kenntnisstand nach – im Politbüro vor allem von Geheimdienstchef Berija vertreten. Zu Lebzeiten Stalins wird man einfach davon ausgehen müssen, dass Stalin sich beide Optionen offen halten wollte: Aufbau der DDR und Liquidation der DDR im Tausch gegen deutsche Neutralität. Die für die DDR entscheidungsschwere zweite Parteikonferenz, auf der schließlich der Aufbau des Sozialismus beschlossen wurde, tagte erst nach dem Scheitern der Stalin-Initiative.
Politische Schlüsselbegriffe im sowjetischen Friedensvertragsentwurf, der der Stalin-Note beigefügt war, zum Beispiel Demokratie oder Frieden, hatten in beiden Machtblöcken unterschiedliche Bedeutung. Diese Bedeutungen bestimmten auch die Wahrnehmung der Gegenseite. Die sowjetischen Deutschlandexperten konnten sich einfach nicht vorstellen, dass die westdeutsche Bevölkerung auf die amerikanische Karte setzte. Sie hielt den Nationalismus immer noch für die Triebkraft deutschen Handelns. Und sie interpretierten die amerikanische Hegemonie über Westeuropa und Deutschland als im Wesen neokolonial. Letztlich fußte die Stalin-Note auf den falschen Deutungen des westlichen Diskurses – sie war ernst gemeint, doch blind für die gesellschaftliche Entwicklung.
Die politische Dimension der historischen Debatte um die Stalin-Note scheint seit 1990 verschwunden zu sein. Hat nicht die deutsche Vereinigung den Beweis erbracht, dass Adenauers Politik der entschlossenen Westintegration letztlich doch zur deutschen Einheit geführt hat, eigentlich ihre Voraussetzung war? Gerade die grau gewordenen Linken, die einst die Westintegration als Verrat an den Deutschen unter sowjetischer Herrschaft gebrandmarkt hatten, sind heute die entschlossensten Verfechter der „Verwestlichung“ samt deren politischen Konsequenzen. Neutralität als politisches Projekt hat, nachdem es da und dort in der Friedensbewegung der Achtzigerjahre kurzfristig wiederbelebt wurde, jede Attraktivität eingebüßt – gerade für die Linken.
Dennoch ist der historische Streit um die Stalin-Note keineswegs erloschen, sondern hat im Gegenteil neuen Schwung bekommen – nun eben nicht mehr aus der politischen Arena, sondern aus den sowjetischen Archiven.
Jürgen Zarusky (Hg.): „Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen“. R. Oldenbourg, München 2002, 212 Seiten, 24,80 €
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