: Wenn die Angst das Denken blockiert
Prüfungsängste kennt jeder. Doch gerade aus diesem Grund werden sie häufig von Außenstehenden unterschätzt
Prüfungsängste scheinen irgendwie normal zu sein, fast jeder kennt sie in der einen oder anderen Form. Die Bekanntschaft führt leicht dazu, dass sie nicht ernst genug genommen werden. Frei nach dem Motto: Wenn ich es überstanden habe, werden es andere auch tun. Unterschätzt sind sie vielleicht auch deshalb, weil sie im kollektiven Bewusstsein mit dem Lampenfieber konnotiert sind. Ein Begriff, der die Spannung von Künstlern vor ihrem Auftritt kennzeichnet.
Doch während Lampenfiber Künstler oft zu Höchstleistungen motiviert, sind Prüfungsängste problematisch. „Ängste blockieren das Denken, deshalb stehen Prüfungsängste oft am Beginn einer ausgewachsenen Schulangst, die den schulischen Erfolg in Gänze zunichte machen kann. Deshalb müssen Prüfungsängste ernst genommen werden“, sagt Christiane Nevermann, Leiterin des schulpsychologischen Beratungszentrums im Bezirk Hellersdorf-Marzahn.
Typische Signale von Prüfungsangst sind Unsicherheit, Fahrigkeit, eine diffuse Aufgeregtheit sowie Handlungs- und Denkblockaden. Somatische Erscheinungen sind Bauch- und Kopfschmerzen, Erbrechen. „Lehrer erkennen diese Ängste oft nicht und interpretieren sie als vom Schüler zu verantwortendes Unvermögen“, kritisiert Nevermann.
Schüler würden auf schulische Angstsituationen oft mit Vermeidungsstrategien reagieren: Erst fehlen sie an einigen Tagen in einem Fach, dann immer öfter in mehreren Fächern, und am Ende dieser Vermeidungsstrategie besuchen sie die Schule überhaupt nicht mehr.
Nach Nevermann haben Ängste bei Schülern in den letzten zehn Jahren nicht generell zugenommen, wohl aber die Schulverweigerung, die nicht nur auf Prüfungsängsten und dem Grausen vor Unterricht und Lehrern beruhen muss. Denn oft spielen soziale Ängste eine Rolle: Mitschüler spüren die Schwäche des Ängstlichen und nutzen sie aus. Mobbing unter Schülern sei ein bekanntes Phänomen, so Nevermann.
Meistens entdecken Eltern die Ängste, weil die Kinder durch Schlaflosigkeit, Unrast, Passivität, die bis zur Depression reichen kann, und Selbstwertproblemen auffällig werden.
In der Sprechstunde wird zunächst Ursachenforschung betrieben. Schulpsychologen legen Wert darauf, dass Schüler, Eltern und Lehrer in diese Sitzungen eingebunden sind. Besuche des Angst auslösenden Unterrichts sowie Gespräche mit den jeweiligen Lehrern über Verhaltensweisen und methodisch-didaktische Entscheidungen sind üblich.
In der psychologischen Arbeit mit den Schülern herrscht Methodenpluralismus. Gespräche, die über mehrere Monate einmal in der Woche stattfinden, werden durch verhaltenspsychologische Arbeitsweisen flankiert. „Das Einüben neuer Verhaltensweisen und deren positive Verstärkung ist das Ziel“, so Nevermann. Dabei sei die Strategie kleiner Schritte am erfolgversprechendsten: sich ein- oder zweimal im Unterricht melden, das bewußte „Stopp“ zu den Panikmachern im Kopf, die Belohnung für überwundene Ängste. Auf der non-verbalen Ebene hätten sich, so Nevermann, besonders das autogene Training und die Muskelentspannung nach Jacobsen bewährt.
Erhard Müller, Leiter des schulpsychologischen Beratungszentrums in Pankow, empfiehlt Schülern darüber hinaus eine besonders gründliche, 150-prozentige Vorbereitung, weil Unsicherheit Ängste produzierten. Die wahrscheinlich zu lösenden Aufgaben sollten vorher durchgespielt werden. Dann würde man feststellen, dass die Anzahl der möglichen Fragen begrenzt ist. Das schaffe innere Sicherheit. Außerdem sollten sich die Prüflinge „Schlachtpläne“ zurecht legen: Fragt der Lehrer dies, antworte ich jenes.
Wichtig sei auch, sich durch Selbstsuggestion zu stimulieren: „Ich kann das, ich schaffe das“, sollte vor Prüfungen das Mantra der Ängstlichen sein. Und last but not least: Schüler gehen selbstverständlich ausgeschlafen zu Prüfungen.
TILMAN VON ROHDEN
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