: Kein Pardon im Hinterhof
Der neue Internationale Strafgerichtshof entstand gegen den Willen der USA und vieler anderer Großmächte des Weltsicherheitsrats. Jetzt muss er auch genutzt werden
Was lange währt, wird schließlich gut. Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat die UNO-Generalversammlung in New York einen Ausschuss von Völkerrechtsexperten damit beauftragt, das Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) auszuarbeiten. In dieser Woche wird diese so dringend benötigte Institution endgültig etabliert. Damit unterliegen Verbrechen gegen die Menschheit, Völkermord und Kriegsverbrechen – die Straftaten, über die bereits 1946 bei den Prozessen von Nürnberg und Tokio verhandelt wurde – erstmals einer universell zuständigen Gerichtsbarkeit.
Das ist trotz aller Kritik und Bedenken im Detail ein erheblicher Durchbruch im Völkerrecht und der größte zivilisationsgeschichtliche Fortschritt seit der Gründung der UNO und der Verabschiedung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“. Mehr als vier Jahrzehnte lang tagte regelmäßig der New Yorker Expertenausschuss und lieferte der Generalversammlung jeden Herbst einen Arbeitsbericht ab. Doch greifbare Ergebnisse wurden verhindert – durch das gemeinsame Interesse der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats an möglichst ungestörter Handlungsfreiheit in ihren jeweiligen Einflussgebieten, Interessenzonen, Hinterhöfen oder Exkolonien.
Doch nach dem Ende des Kalten Krieges entstand eine neue Dynamik. Ausgelöst wurde sie durch die Kriege und schweren Menschenrechtsverletzungen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, die 1993 zur Etablierung des Den Haager Ad-Hoc-Tribunals der UNO zur Verfolgung der Kriegsverbrechen in Exjugoslawien führte. Für Ruanda wurde nach dem Völkermord vom Frühjahr 1994 ein entsprechendes Tribunal eingesetzt. Gegen das Jugoslawien-Tribunal werden verschiedene Bedenken vorgebracht, von denen einige nicht haltbar sind, andere allerdings berechtigt oder doch zumindest nachvollziehbar.
Der – nicht nur unter Serben, sondern auch in Teilen der westlichen Linken verbreitete – Vorwurf, das Tribunal richte sich einseitig gegen Serben, wird durch die Tatsachen nicht gedeckt. Die bislang von dem Tribunal erhobenen Anklagen, eingeleiteten Verfahren und gefällten Urteile verteilen sich auf Serben, Kroaten oder Muslime durchaus proportional zu den vorliegenden Erkenntnissen und Beweisunterlagen über die Anteile der jeweiligen Volksgruppe an den seit 1991 in Exjugoslawien verübten Verbrechen. Der Behauptung des Angeklagten Slobodan Milošević, das Tribunal sei nicht völkerrechtskonform, weil es lediglich durch eine Resolution des UNO-Sicherheitsrates etabliert wurde und nicht durch einen Beschluss der Vollversammlung, hat sich bislang kein Völkerrechtler angeschlossen.
Völlig berechtigt ist die Kritik, dass die bisherige Praxis der Finanzierung des Tribunals einigen wenigen Staaten viel zu starken Einfluss auf das Tribunal ermögliche – insbesondere den USA. Weit verbreitet ist der Verdacht, dieser Einfluss habe die äußerst fragwürdige Entscheidung des Tribunals beeinflusst, kein Verfahren über etwaige Kriegsverbrechen der Nato-Staaten im Jugoslawienkrieg von 1999 zu eröffnen. Nichts hat der Glaubwürdigkeit des Tribunals – auch bei vielen seiner Unterstützer – mehr geschadet als diese Entscheidung.
Durchaus nachvollziehbar ist auch die Beschwerde von BürgerInnen des ehemaligen Jugoslawiens über die „historische Selektivität“ des Tribunals. Warum, so wird von ExjugoslawInnen aller Volksgruppen gefragt, waren die Ereignisse in unserem Land erstmals ein Anlass für ein UNO-Tribunal? Warum gab es derartige Tribunale nicht schon nach den Kriegen der USA in Vietnam, der Sowjetunion in Afghanistan oder der Franzosen in Algerien?
Zwar taugt diese Kritik nicht zum grundsätzlichen Einwand gegen die Existenz des Jugoslawien-Tribunals. Doch sie ist völlig berechtigt, wie etwa auch die Klage der Armenier und anderer Völker, die im letzten Jahrhundert Opfer von Genoziden und anderer schwerer Menschenrechtsletzungen wurden, die bis heute ungesühnt blieben oder sogar noch nicht einmal von der UNO als Verbrechen anerkannt wurden. Der Internationale Strafgerichtshof ist keine Anwort auf die unbewältigten Kapitel der Vergangenheit. Aber dank seiner universellen Zuständigkeit gibt es zumindest die institutionelle Chance, die Selektivität des 20. Jahrhunderts nicht fortzusetzen.
Auch sind im Statut des neuen Gerichts die wichtigen Detailfragen besser geregelt als bei den beiden UNO-Tribunalen, so etwa die Finanzierung oder das Wahl- und Berufungsverfahren für Richter und Ankläger. Damit ist die Gefahr zu großer Einflussnahme einzelner mächtiger Staaten zumindest minimiert.
Der IStGH ist die erste universelle Institution seit fast 100 Jahren, die ohne aktive Beteiligung der USA, ja gegen ihren Willen und trotz massiver Behinderung und vieler Sabotageversuche geschaffen wurde. Die USA waren federführend bei der Gründung des Völkerbundes 1919, der UNO 1945 und fast aller seitdem etablierten internationalen Institutionen, und sie haben deren Zweckbestimmung, interne Struktur und Regeln entscheidend geprägt. Die Verabschiedung des IStGH-Statuts im Sommer 1998 in Rom gegen den Willen nicht nur der USA, sondern zunächst auch dreier weiterer ständiger Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats war ein wichtiger Akt der Emanzipation und der Souveränität gegenüber Großmächten. Leider blieb es, abgesehen vielleicht vom Klimaschutzprotokoll von Kioto, bislang bei diesem einen Akt.
Möglich wurde der Erfolg von Rom durch die jahrelange aktive Vorarbeit eines internationalen Netzwerks von Nichtregierungsorganisationen. Auf der Basis dieser Vorarbeit formulierte eine Koalition von zunächst nicht mehr als 40 der 189 UNO-Staaten gemeinsame politische Ziele und Prinzipien und entwickelte eine Strategie zu ihrer Durchsetzung. Die – damals noch CDU/FDP-geführte – Regierung Deutschlands spielte in dieser Koalition zur Durchsetzung des IStGH-Statuts eine entscheidende Rolle. Die Bereitschaft, als richtig erkannte politische Ziele und Prinzipien notfalls auch im Konflikt mit Washington durchzusetzen und ihnen universelle Gültigkeit zu verleihen, hat seit der Konferenz von Rom und ganz besonders seit den Terroranschlägen vom 11. September letzten Jahres wieder nachgelassen – in Berlin und in vielen anderen Hauptstädten.
Doch Engagement und Wachsamkeit der Nichtregierungsorganisationen sowie die Souveränität und Prinzipentreue von Regierungen sind auch künftig unerlässlich. Nur so kann der IStGH funktionieren und genutzt werden. Und nur dann entsteht der notwendige politische Druck und wächst die Chance, dass auch die USA eines Tages ihren Widerstand gegen den IStGH aufgeben und ihm beitreten.
ANDREAS ZUMACH
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