piwik no script img

Logik der Gewaltpolitik

Die „Zerschlagung des Terrors“ ist eine perfide Ideologie der israelischen Regierung, solange die zentrale Ursache des Terrors existiert: die Unterdrückung der Palästinenser

Dem zionistischen Projekt droht letztlich entweder eine innere oder eine „von außen“ bewirkte Auflösung

Es sieht zurzeit düster aus im Nahen Osten. Der Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern, wie er sich seit Beginn der 1990er-Jahre infolge der Oslo-Abkommen entfaltete, ist nun endgültig ad acta gelegt. Nach dem Scheitern der Camp-David- und Taba-Verhandlungen und der damit einhergehenden Gewalteskalation in der zweiten palästinensischen Intifada ist man nunmehr in eine Sackgasse geraten, von der niemand recht weiß, wie man aus ihr herauskommt. Eine von den Schrecknissen der palästinensischen Selbstmordattentate gebeutelten israelischen Gesellschaft hat einen merklichen (auch sozialpsychologischen) Rechtsdrall erfahren – viele, sehr viele „wollen den Krieg“, fordern eine rigoros-konsequente Bekämpfung „der Palästinenser“. Die brutale Rückeroberung der palästinensischen Städte im Westjordanland unter dem Vorwand der „Zerschlagung des Terrors“ hat de facto die Machtapparate der palästinensischen Autonomiebehörde, mithin Arafats politische Aktionsfähigkeit nahezu vollends eliminiert oder zumindest doch lahm gelegt. Als einziger „Sieger“ aus dieser Entwicklung geht Israels Premierminister Ariel Scharon hervor: Zum einen hat er sich gegenüber seinem Rivalen Benjamin Netanjahu, welcher ihm die politische Partei- und Regierungsführung streitig zu machen trachtet, brachial profiliert. Zum anderen hat er aber nun „endlich“ das praktizieren dürfen, was schon seit Jahrzehnten sein eigentliches Anliegen ist: die Palästinenser niederzukämpfen, ihre Führung zu zerschlagen und den Fortbestand des Okkupationsregimes zu garantieren, notfalls unter Vollzug eines massiven Bevölkerungstransfers der Palästinenser. Mit einer solchen Politik (wenn auch unter anderen Bedingungen) hat Scharon Israel schon das letzte Mal in eine Katastrophe geführt, in den Libanon-Krieg 1982.

„Die Zerschlagung des Terrors“ ist, so gesehen, nichts als perfide Ideologie, solange die eigentlichen Ursachen des Terrors, mithin die nunmehr Jahrzehnte währende israelische Okkupation und die systematische Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung, nicht beseitigt werden. Genau daran ist Scharon freilich nicht gelegen. Der Terror wird, in der Logik seiner Gewaltpolitik, hingenommen, wenn nur die Westjordanland-Siedlungen unangetastet bleiben. Und diese müssen unangetastet bleiben, nicht zuletzt, weil Scharon sonst seine politische Macht sofort verlöre. Sein treuestes politisches Hinterland befindet sich ja in der Siedlerbewegung.

Wenn nun aber Scharon (und große Teile seiner Koalitionsregierung) ein Interesse an der Fortsetzung der Gewalt haben, was bewegt den größten Teil der jüdisch-israelischen Bevölkerung dazu, ihn zu unterstützen? Wenn doch den allermeisten Israelis klar sein muss, dass es keine militärische Lösung für die Ausmerzung des Terrors geben könne, vielmehr davon ausgegangen werden müsse, dass die Zerschlagung der palästinensischen Infrastruktur den Boden für gesteigerten Hass, größere Verzweiflung und massiveren Terror auf palästinensischer Seite nährt, wie kommt es, dass man Scharons Gewaltpolitik hinnimmt, sie gar – vielerorts mit Begeisterung – unterstützt? Die Antworten auf diese Fragen variieren: vom größeren Zusammenhalt angesichts äußerer Bedrohung ist die Rede, vom deformierten Bewusstsein infolge einer seit Jahrzehnten von Unterdrückung und Gewalt durchwirkten Alltagsrealität, von unüberwundenen historischen Traumata, von militaristischer Mentalität der Israelis, von zunehmender regressiver Depolitisierung der Öffentlichkeit und dergleichen.

Alle diese Faktoren haben zweifellos eine gewisse Wirkung auf das besagte Phänomen. Hier soll aber ein bislang unterbelichter, seinem Wesen nach freilich eher im Bereich von Vorbewusstem liegender Aspekt angerissen werden. Denn die Israelis (das heißt: die jüdisch-israelische Bevölkerung und mit dieser der Zionismus an sich) stehen an einer historischen Weggabelung, die sie vor ein quasi unauflösliches Dilemma stellt.

Israel könnte beschließen, im Rahmen einer endgültigen Friedensregelung die besetzten Gebiete zu räumen und die Siedlungen abzubauen. Man kann sogar davon ausgehen, dass der allergrößte Teil der Siedler sich dem von der Regierung verordneten Räumungsbeschluss fügen würde. Es würde aber schon reichen, wenn eine Minderheit von mehreren hundert oder gar tausenden Hardlinern sich der Räumung mit konsequentester Vehemenz widersetzte, der Staat mithin gefordert würde, sein Gewaltmonopol gegen sie einzusetzen, und es käme zur blutigen Auseinandersetzung, bei der „Juden auf Juden“ schießen (eine für viele in Israel kaum auszuhaltende Vorstellung). Eine derartige Situation förderte eine latente makropolitische Zerrissenheit zutage, die das nicht leicht wegzudiskutierende Potenzial eines tendenziellen Bürgerkriegs in sich bärge.

Israel könnte dagegen auch beschließen, die besetzten Gebiete unter keinen Umständen räumen zu wollen, sei es, weil eine Siedlungsinfrastruktur angelegt worden ist, die einen letztlich irreversiblen Zustand geschaffen habe, wie der linksliberal kritische Beobachter Meron Benbenisti schon seit Jahren behauptet, sei es, weil der Anspruch auf die Gebiete unter militärisch-sicherheitsmäßigen oder auch religiös-theologischen Aspekten erhoben, im letzten Fall gar als unumstößliches Postulat deklariert wird. Diese links diagnostizierte bzw. rechts geforderte Beibehaltung des Okkupationszustandes impliziert letztlich die objektive Schaffung einer binationalen Struktur. Sie kann von den Palästinensern als solche abgewiesen werden, womit der Dauerkonflikt zur Norm der Koexistenz erhoben würde (samt der damit einhergehenden Gefahr für die israelische Zivilgesellschaft). Sie kann von den Palästinensern, die auf eine absehbare Veränderung des demografischen Mehrheitsverhältnisses zu ihren Gunsten setzen, angenommen werden, gar unter der Bereitschaft, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Wenn die Palästinenser eine binationale Struktur abwiesen, würde der Dauerkonflikt zur Norm

Schließt man die Extremmöglichkeit eines massiven Bevölkerungstransfers aus – ein Szenario, das seiner inneren Logik nach zwangsläufig in einen regionalen Krieg mit unabsehbaren Folgen für alle beteiligten Parteien hinauslaufen müsste –, bedeuten die beiden hier gezeichneten polaren Handlungsmöglichkeiten letztlich entweder die innere oder eine „von außen“ bewirkte Auflösung des zionistischen Projekts. Es ist fraglich, ob viele Israelis dies deutlich vor Augen haben, wie es denn fraglich ist, ob sich der größte Teil der israelischen Bevölkerung jemals Rechenschaft darüber abgelegt hat, welchen Preis er für einen wahrhaften Frieden zu zahlen bereit ist. Ohne sich aber über diese geschichtliche Wende- und Entscheidungssituation klar geworden zu sein, verharrt man allenthalben in der Lähmung einer eher vorbewussten Ahnung – unfähig zur politisch mündigen Handlung, psychisch dafür umso bereiter, sich den leeren Versprechungen des „starken Mannes“ hinzugeben. Es ist die Zeit der Lemminge.

MOSHE ZUCKERMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen