Mit der Kampa in die Pampa

Das erste Gebot: Du sollst zuhören. Das zweite Gebot: Du sollst nichts versprechen.

aus Magdeburg und Freyburg RALPH BOLLMANN

Nein, so richtig freuen mag sich der Kanzler nicht. Dabei hat ihm der Chef der örtlichen Handelskammer doch gerade einen opulenten Bildband in die Hand gedrückt. Gerhard Schröder sagt auch artig Danke für das Buch über Otto den Großen – jenen mittelalterlichen Kaiser, der das zuvor recht trostlose Magdeburg an der Elbe für kurze Zeit zum gesamtdeutschen Machtzentrum erhob. Doch der Besucher aus Berlin will den Wälzer nicht haben. „Das Problem ist“, brüskiert er den Gastgeber, „den hat er mir schon mal gegeben.“

Ein bisschen ist es in diesen Tagen wie bei Otto dem Großen: Die Augen aller politischen Beobachter richten sich wieder auf Magdeburg. In der sonst eher öden Stadt wird am 21. April ein neuer Landtag gewählt. Der einzige Stimmungstest im Jahr der Bundestagswahl findet ausgerechnet in einem Bundesland statt, von dem die Mehrzahl der Deutschen noch nicht einmal genau weiß, wo es liegt.

Und deshalb geht es allen Berliner Politstrategen ein bisschen wie dem Bundeskanzler: Das Geschenk, das ihnen der Zufall des Wahlkalenders da ins Nest gelegt hat, würden sie am liebsten zurückgeben. Wie einfach war es doch vor vier Jahren, als das Votum der Niedersachsen den Ministerpräsidenten aus Hannover erst zum Kandidaten, dann zum Kanzler machte! Und wie einfach wäre es gewesen, in Stoibers Bayern oder Clements Nordrhein-Westfalen über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Standortpolitik zu streiten!

Stattdessen müssen SPD-Kanzler und Unionskandidat nun jenes Land bereisen, an dessen verzweifelter Lage auch ihre viel gerühmte Wirtschaftskompetenz versagt. Ein deprimierter Schröder, ein ratloser Stoiber in maroden Betrieben zwischen Zeitz und Stendal, Bitterfeld und Oebisfelde – welche Botschaft wäre das fürs Wahlvolk im Rest der Republik? Und dann noch mit zwei örtlichen Spitzenkandidaten im Schlepptau, in deren Gesichtern sich das ganze Elend ihres geschundenen Landes widerspiegelt?

So geht es nicht, haben die Berater aus „Kampa“ und „Stoiber-Team“ beschlossen. Also herrscht derzeit reger Publikumsverkehr bei den wenigen Betrieben, denen es ganz prächtig geht. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht die Staatskarossen mit Berliner Kennzeichen bei irgendeinem Technologiepark vorfahren, bei einer erfolgreichen Maschinenfabrik in Magdeburg oder beim gesamtdeutschen Sektriesen „Rotkäppchen“ in Freyburg an der Unstrut.

Wenn Edmund Stoiber, die Aktentasche auf dem Schoß, vor dem historischen Gebäude der Sektkellerei vorfährt, dann hält er sich strikt an die Maxime, sich bloß nicht aufs Jammern einzulassen. Mehr als eine Stunde nimmt er sich fürs Gespräch mit den Mitarbeitern, um ihnen seine zwei Botschaften wieder und wieder einzubläuen. Erstens: Wir brauchen mehr Selbstständige. Zweitens: Wir brauchen weniger bürokratische Hemmnisse.

„Wie haben Sie denn das empfunden, diese Veränderung gegenüber früher mit der bürokratischen Struktur?“, fragt er also den Geschäftsführer. Der aber fühlt sich von den Behörden gar nicht behindert. „Ich kann das nicht nachvollziehen, dass das alles so lange dauern soll.“ Das Klagen übernehmen nun die Mitarbeiter. Über die Jugendlichen, die in den Westen gehen, weil es vor Ort keine Jobs gibt; über die Betriebe, die schließen müssen, weil Rechnungen nicht bezahlt werden; über die Politik im Allgemeinen. „Das hat uns auch der Herr Schröder versprochen, dass sich da was ändert“, sagt eine Betriebsrätin.

Fast ist es schon so weit, dass Stoiber weich wird. „In jeder Familie ist der Mann, die Frau, das Kind irgendwie arbeitslos“, erkennt er. „Dös is das Bittere: Die Leute fühlen sich zum Teil ungerecht behandelt.“ Und Wolfgang Böhmer, der CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl, erteilt Nachhilfe: Die Sache mit der Zahlungsmoral, auf die Stoiber gar nicht eingehen mag, sei wirklich „ein gravierendes Problem“. Aber als Stoiber draußen, im alten Lichthof der Kellerei, vor einer riesigen Plasteflasche mit „Rotkäppchen“-Aufdruck sein Statement für die Fernsehkameras aufsagt, da hat er die neu gewonnenen Erkenntnisse schon wieder vergessen. „Mittelstand fördern“, rät er wieder, „Bürokratie abbauen“.

Wenn Stoiber in Sachsen-Anhalt über marode Betriebe spricht, dann rutscht ihm bisweilen noch immer ein „dort“ heraus; im Gegenzug spricht er dann vom bescheidenen Wachstum „hier“ in Westdeutschland. Oft passiert ihm das allerdings nicht – weil er, nicht anders als Schröder, den Gegensatz zwischen Ost und West für erledigt hält. „Boomregionen“ wie München oder Leizpizg auf der einen, „schwächere Regionen“ wie Sachsen-Anhalt oder Bremen auf der anderen Seite – so einfach ist das für den Kandidaten. Immer wieder sagt er: „Das ist kein Problem Sachsen-Anhalts, das ist ein Problem ganz Deutschlands.“

Dabei hat Stoiber seine Lektionen durchaus gelernt. Den erhobenen Zeigefinger, einst seine liebste Geste, setzt er seltener ein denn je. Ob der Asket bei „Rotkäppchen“ auftritt oder auf einem Bauernhof in der Magdeburger Börde einen Teller mit riesenhaften Blut- und Leberwürsten vorgesetzt bekommt („alles heimisch produziert?“) – er beginnt den Besuch mit dem immer gleichen Satz: „Mir ist es sehr wichtig, die Lebenswelt der Menschen in ganz Deutschland in ihrer Vielfalt kennen zu lernen.“ Du sollst zuhören: Das ist das erste Gebot, und das zweite lautet: Du sollst nichts versprechen. Nicht einmal die Rücknahme der Legehennenverordnung, obwohl die Bauern in der Börde das gerne hören würden.

Draußen vor den Kameras hat Stoiber die neuen Erkenntnisse schon wieder vergessen

Auch das dritte Gebot befolgt Stoiber aufs strengste, als handle es sich um eine gesundheitsfördernde Diät: Du sollst, zumindest im Osten, den politischen Gegner nicht beleidigen. Schließlich wäre eine Koalition aus CDU und SPD laut Umfragen für die meisten Wähler in Sachsen-Anhalt das Wunschbündnis. „Ich will über niemanden etwas Negatives sagen“, beteuert Stoiber also stets, bevor er dem Bundeskanzler etwas Negatives sagt. Auch die Kritik am SPD-Ministerpräsidenten Reinhard Höppner will er „nicht zu direkt machen“. Nur so viel: „Man kann ein Land nicht führen wie eine evangelische Synode.“

Reinhard Höppner. Immer schleicht Höppner in einem halben Meter Abstand hinter Gerhard Schröder her, mit gebeugtem Gang und gesenktem Kopf – egal ob der Kanzler in Magdeburg aufstrebende Pharmafirmen besucht oder eine hochmoderne Fachhochschule. Und wenn Schröder ganz euphorisch ein neu entwickeltes Medikament gegen Heuschnupfen bestaunt („Das is’ ja irre!“) – dann macht sich Höppner schon wieder Sorgen. Bestimmt werde die Erfindung bald an einen auswärtigen Großkonzern verkauft. „Wir haben unsere Landesgelder reingesteckt, und dann isses verschwunden.“ Es richtet sich also auch an die Adresse des Ministerpräsidenten von der eigenen Partei, was Schröder am Donnerstagabend im stickigen Saal der Magdeburger Industrie- und Handelskammer sagt. „Meine Bitte, die ich habe: wenn das Glas halb voll ist, es nicht immer nur halb leer zu nennen.“

So richtig zünden wollen Schröders Appelle allerdings nicht. In den persönlichen Gesprächen ist er zwar schlagfertig wie immer, und im Gegensatz zu Stoiber brilliert der Mann aus dem benachbarten Niedersachsen auch mit einer gewissen Ortskenntnis. „Der Tagebau Jänschwalde – ist das da, wo Horno liegt?“, fragt er etwa, und nicht minder schlagfertig pariert er einen verspäteten studentischen Protest gegen den Afghanistankrieg.

Aber als er vor den Unternehmern in der Magdeburger Industrie- und Handelskammer erklären soll, warum es mit der Wirtschaft irgendwie aufwärts geht – da verirrt sich der Meister des klaren Hauptsatzes so sehr in öden Schachtelsätzen, dass es schon fast an seinen Herausforderer Stoiber erinnert. Und als die Kellnerinnen das Bier hereintragen, erkennt er selbst: „Ich soll aufhören, soll das wohl heißen.“

Das hatte der Kanzler ganz richtig verstanden. Ein Wahlkampf in großen Hallen oder auf offenen Plätzen findet in Sachsen-Anhalt ohnehin nicht statt – weil das Publikum ausbleiben würde. Nicht nur Schröder und Stoiber tun sich schwer damit, dass sie plötzlich nach Magdeburg schauen müssen. Auch die Wähler vor Ort haben keine rechte Lust, eine Vorentscheidungen für die Bundestagswahl zu treffen. Die Wahlbeteiligung, sagen die Demoskopen, wird so niedrig ausfallen wie noch nie.