„Der Verlust des schönen, kleinen Israels“

Am 54. Geburtstag des Landes herrscht ein Klima von Trotz, Selbstgerechtigkeit und verdrängter Furcht. „Ich habe keine Angst – vermutlich ein Zeichen von Dummheit, als fehlten mir Fantasie und gesunde Instinkte“, sagt ein Professor. Szenen einer Erinnerungsfahrt zu alten Idealen

JERUSALEM taz ■ Im Bus herrscht sentimentale Sehnsucht nach alten Zeiten, hervorgerufen durch ein Video mit Musik aus den Fünfzigerjahren, das auf dem Bildschirm rechts über dem Fahrersitz läuft. Drei Dutzend angegraute Fünfundsechzigjährige reisen übers Wochenende von Jerusalem in die Wüste Negev zum Treffen der sozialistischen Jugendbewegung, der sie als Teenager angehörten und mit der sie nahe der ägyptischen Grenze die Kibbutzim Aschalim und Berotaim gründeten. Dort überraschte sie als Rekruten der Sinai-Feldzug von 1956, bei dem sie ihren ersten Kampfeinsatz erlebten. Danach wurden sie Mitglieder in einem Kibbutz in Galiläa. Später tauschten fast alle das Leben in der landwirtschaftlichen Kommune mit einem bürgerlichen Leben in der Stadt. Die Jerusalemer wollen mit den inzwischen übers ganze Land verstreuten Freunden die Stätten ihrer Pionierzeit aufsuchen, Erinnerungen austauschen, zum Luftschnappen aus der gefährlichen Stadt hinaus in die Landschaft. Sie singen die schwermütigen Oden an das schöne kleine Land von damals mit großer Inbrunst mit – bis Tami, die Transistorradio hört, kurz vor Beerschewa mit einem Schrei unterbricht: „Ein Anschlag in Jerusalem !“ Das Busradio wird angeschaltet. Wieder eine Selbstmordattacke, im Markt Machaneh Jehuda, knapp einen Kilometer von der Stelle entfernt, wo der Bus vor einer Stunde abfuhr. Handys werden hervorgeholt, die Kinder in Jerusalem angerufen. Abrupt wechselt die Stimmung.

Nun redet man wieder von der Angst, dem israelischen Standardthema heutzutage. „Ich war seit einem Jahr nicht mehr im Markt“, sagt die Lehrerin Ruthie, „und im Supermarkt rufe ich nur noch an und gebe Bestellungen auf.“ Sie treffe sich nicht mehr mit Freundinnen im Cafe, sondern nur noch zu Haus, gesteht Mimi. „Ich schiebe den Besuch bei meiner Zahnärztin schon weit über die Schmerzgrenze hinaus auf, weil die Praxis im Stadtzentrum liegt“, klagt Meira. Sie schlafe seit Monaten nur noch mit Schlafmitteln ein, berichtet Sarah. Sie sei ein Kinofan, sagt Rina, aber wenn sie tagelang überlegen müsse, was wichtiger sei, Film oder Leben, mache ihr Kino keinen Spaß mehr. Die Enkel von Schmuel und Mimi, von Hedwa und Jossi, von Ben und Miri sind Rekruten, die Söhne von Malka und Haim, von Dudu und Rina sind als Reservisten irgendwo im Westjordanland im Einsatz.

Das Leben hat sich verändert, die Frauen geben es bereitwilliger zu als die Männer. „Ich hab überhaupt keine Angst“, sagt Geologieprofessor Jehuschua, „vermutlich ein Zeichen von Dummheit – als fehlten mir Fantasie und gesunde Instinkte. Bei meiner Frau Amira ist das alles vorhanden. Deshalb geht sie kaum noch aus dem Haus.“ Schmuckhersteller Jair betont, er lasse sich seine tägliche Routine nicht zerstören: „Das Leben muss weitergehen, sonst triumphieren die Terroristen. Denn das ist es doch, was sie wollen: unser Leben durch Angst kaputtmachen, bis wir die Hände heben. Ohne mich.“ Er sagt es trotzig. Auch Ängste unterdrücken kostet Energie. Und manchmal Geld. Davon profitiert Versicherungsvertreter Schimon: Der Abschluss neuer Lebensversicherungen ist seit vergangenem Jahr rapide gestiegen, berichtet er.

Ofer, internationale Koryphäe in Ur-und Frühgeschichte, ist eigens aus Harvard angereist. Sein Sabbathjahr 2003 will er in Israel verbringen. „Ich habe dauernd Sehnsucht. Die israelische Gegenwart macht mir Sorge, aber keine physische Angst – vielleicht, weil ich in der Vergangenheit lebe.“ Das Radio nennt die Opferzahlen von Machaneh Jehuda: 6 Tote, 86 Verwundete.

Beim geselligen Abend im Kibbutzgästehaus von Maschabei Sadeh wird vom Anschlag nicht mehr geredet. Registriert wird, dass einige der ehemaligen Genossen fehlen. Gideon Ezra, einst Vizechef des Geheimdienstes Schin Beth und als mittlerweile aufrechter Likud-Mann stellvertretender Minister für Innere Sicherheit, hat sich mit der Notwendigkeit von Bodyguards und politischen Verpflichtungen entschuldigt. „Der hätte ohnehin nicht gepasst“, tröstet man sich. Drei Freunde sagten ab, da sie „zu deprimiert für ein fröhliches Wochenende“ seien. Dennoch wird es ausgelassen lustig. Man zeigt verblichene Dias, die die Anwesenden mit kurzen Khakihosen und schwarzen Lockenmähnen, mit Spaten und Gewehren, auf Feldern, unter Palmen und auf Kamelen zeigen. Bei Diät-Cola und mitgebrachtem Kuchen singt man Hymnen der sozialistischen Jugend und die Internationale und tanzt um zwei Uhr nachts zu Akkordeonklängen. „Um ehrlich zu sein, da ist mir der Verlust besonders schmerzhaft bewusst geworden“, wird Uri am nächsten Morgen sagen, „der Verlust des schönen, kleinen Israels, auf das wir so stolz waren, in das wir so viele Hoffnungen hatten.“

Beim Busausflug zu den Erinnerungsstätten am nächsten Tag philosophiert und debattiert man heftig über eine Lösung, wie es auch allabendlich in Jerusalemer Wohnzimmern üblich ist. Von den liberalen politischen Standpunkten der sozialistischen Kibbutzbewegung haben sie sich fast alle distanziert, obwohl sie beteuern, weiter mit der Friedensbewegung zu sympathisieren. Sie sind bitter und konfus, enttäuscht über die Palästinenser, die internationalen Medien, das Unverständnis der Welt. Als Kinder von Einwanderern aus Russland, Polen, Deutschland, dem Jemen und Marokko, von Eltern, die Holocaust und Verfolgung überstanden haben, zweifeln viele von ihnen, ob der jüdische Staat, gerade 54 Jahre alt, noch überleben kann. An Auswanderung denkt keiner, dazu sind sie zu patriotisch und zu alt.

Der Bus passiert die Wachttürme des Wüstengefängnisses Ketzioth, das während der vorigen Intifada als Internierungscamp für aufständische Palästinenser üblen Ruf bekam. Nach den Osloer Abkommen 1993 aufgelöst, wird es gerade renoviert – zur Unterbringung der rund 5.000 kürzlich verhafteten Palästinenser. „Da kommt die menschliche Beute des Kriegs für die Siedlungen rein“, erklärt Reiseführer Dan sarkastisch. Viele gucken indigniert – diese Bemerkung finden sie ausgesprochen unpassend. ANNE PONGER