: Der böse Blick der Schuldigen
In einem Schauprozess ließen die Nazis 1942 in Nürnberg einen Juden wegen „Rassenschande“ zum Tode verurteilen. Mit „Leo & Claire“ versucht sich Josef Vilsmaier an diesem historischen Stoff – und zeigt sich einmal mehr überfordert
Josef Vilsmaier arbeitet seit fünfzehn Jahren unermüdlich daran, die Geschichte Nazideutschlands in Genrefilme zu verwandeln. Das reicht vom Heimatfilm „Herbstmilch“ (1989) über den Kriegsfilm „Stalingrad“ (1995) bis zum unglückseligen Melodrama „Marlene“ (2001). Das Rezept ist immer das Gleiche: Zeitgeschichte als Kolorit, um menschlich Bewegendes zu inszenieren. Vilsmaiers Kino ist manchmal richtig reaktionär – und immer unfähig, sich Geschichte anders denn als Schicksalsschlag vorstellen zu können.
„Leo & Claire“ füllt eine Leerstelle im Vilsmaier’schen NS-Deutschland. Er zeigt, was bisher unsagbar war: die Judenverfolgung. Er tut dies in erprobter Weise: miniaturisiert zu einem Fall und in einer Inszenierung, die uninspiriert zu nennen eine Untertreibung wäre.
Es geht um einen Justizmord: den berühmtesten „Rassenschandeprozess“ im Nazireich.
1942 wurde in Nürnberg der jüdische Kaufmann Leo Katzenberger wegen „Rassenschande“ hingerichtet, seine Bekannte Irene Scheffler kam ins Gefängnis. Nachbarn hatten die beiden denunziert. Die Liaison, die ihnen nachgesagt wurde, war wohl nur eine Fantasie, der Schauprozess aber eine der furchtbarsten öffentlichen Dokumentationen des Rasseirrsinns der Nazis.
Vilsmaier erzählt chronologisch: Anfang der 30er lebt Leo Katzenberger (Michael Degen) in heiler Familie und großbürgerlichem Ambiente. Die Gegenwelt zur lichten Villa ist der Hinterhof eines seiner Mietshäuser. Dort zieht die junge Fotografin Irene (Franziska Petri) ein: Eine Liebelei entspinnt sich, misstrauisch beäugt von den Nachbarn. Vilsmaier versammelt dort ein Typenkabinett, eine neurotische Volksgemeinschaft: die böse Alte, der nichts entgeht, die junge, sexuell Frustierte, die neidisch sieht, welche Anziehung Irene auf die Männer ausübt, die zickige Ehefrau, die die neue Junge als Bedrohung sieht, die Mutter, der die Pubertät ihres Sohnes Angst macht, der Arbeiter, der seine Frau vergewaltigt. Immer wieder sehen wir ihre geilen, verstohlenen Blick durch die Gardine auf die nackte Schöne. Dies, sagt der Film, ist der Blick der Schuldigen. Und weil Vilsmaier an diese Moral ganz doll glaubt, sehen wir diese Szene alle fünf Minuten. Edel und unschuldig das scheue Liebespaar, das vielleicht gar keines ist, schmutzig und durchtrieben der Mob, in dem wir uns gewiss nicht wiedererkennen müssen. Die Botschaft ist klar: Die sexuelle Frustration dieser Volksgemeinschaft entlädt sich im Hass auf den „Juden“ und seine „Hure“. Wilhelm Reich für Arme.
Blind bleibt die Regie für alle Subtexte dieses „Fenster zum Hof“-Settings. Der geile Blick ist tödlich, der Blick der Fotografin, die ihre Nachbarn abbildet, hingegen auf Wahrheit aus. So what? Sollen wir im Blick durch den Fotoapparat eine Spiegelung von Vilsmaiers Blick durch die Kamera erkennen, der ja auch die Wahrheit sucht? Wie eitel, wie anmaßend.
Vilsmaier traut sich keine Metapher, keine Verdichtung – er scheint wirklich nicht zu wissen, warum diese Geschichte erzählenswert sein könnte. Wo die Regie mehr tut, als Schauspielern bei der Arbeit zuzusehen, kippt die Szene in Pathosfloskeln. Als die Gestapo Leo schließlich verschleppt, weinen die Geigen und das Opfer starrt durch das vereiste Autofenster. „Leo & Claire – eine wahre Geschichte“ trägt das naive Vertrauen auf die reine Wahrheit des Wirklichen schon im Titel. So viel ästhetische Mutlosigkeit, so viel Ratlosigkeit dem Historischen gegenüber sucht im deutschen Kino ihresgleichen. STEFAN REINECKE
Leo & Claire. Regie: Joseph Vilsmaier. Mit Michael Degen. D 2001, 95 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen