: Die Berliner Schule der Erinnerung
Vor 70 Jahren gründete die 23-jährige Jüdin Lotte Kaliski eine private Waldschule. Sieben Jahre später wurde sie von den Nazis geschlossen
von CORINNA BUDRAS
Wenn die 76-jährige Inge Forstenzer von ihrer ehemaligen Schule berichtet, dann hat sie sichtlich Spaß daran. Dann leuchten ihre Augen und sie fängt an, in einem großen Karton zu wühlen, auf dem „Kaliski“ steht. Sie kramt einige alte Gedichte hervor, die ein Schüler über den Mathematikunterricht ihrer Schulleiterin Lotte Kaliski angefertigt hat: „Los, los, nehmt eure Hefte vor / Wir haben’s nicht, so klingt’s im Chor / Ja Kinder, so geht es nicht weiter / Im Sommer wart ihr viel gescheiter!“ Irgendwann hält die zierliche Frau mit dem schneeweißen Haar inne, wendet sich an ihren Gesprächspartnerin und sagt recht forsch: „Haben Sie denn auch so etwas in ihrer Schulzeit gemacht?“
Das allein reicht, um dem Zuhörer das Gefühl zu geben, mit diesem Karton etwas ganz Besonderem auf der Spur zu sein – obwohl diese Schule 1939 von den Nazis geschlossen wurde und Inge Forstenzer bereits seit über 50 Jahren auf Long Island im US-Bundesstaat New York lebt. Der Inhalt dieses geheimnisvollen Kartons: sorgsam aufbewahrte Dokumente, Fotos und Berichte von der Privaten Waldschule Kaliski (PriWaKi), die vor 70 Jahren in Berlin gegründet wurde. Das Gefühl des Besonderen beschleicht einen auch dann, wenn man die rund 80 älteren Damen und Herren im Saal des Kempinski bei Kaffee und Kuchen sieht – obwohl dieses Ereignis schon fast zehn Jahre her ist.
In einem Film über das letzte offizielle Klassentreffen der Kaliski-Schule stehen ehemalige Schüler vor dem Mikrofon an der Stirnseite des Hotelsaals und erzählen sich alte Schulstreiche. Zum Beispiel den, wie sie damals dem wenig beliebten Biologielehrer eine Maus auf die Kreideschale setzten und dieser dann entsetzt aus dem Raum lief. Inge Forstenzer, die diese Geschichte erzählt, muss bei dem Gedanken daran kichern, im Saal ertönt schallendes Gelächter. Schöne Erinnerungen an eine behütete Schulzeit mitten im nationalsozialistischen Deutschland.
Die PriWaKi war keine gewöhnliche Schule, auch im Hinblick auf die Erziehung in den 30er-Jahren. Das lag insbesonders an der Gründerin Lotte Kaliski und ihren reformorientierten Ideen. Die junge Lehrerin war durch Kinderlähmung gehbehindert, doch sie war überzeugt von dem Konzept einer Waldschule, in der ein Großteil des Unterrichts im Freien erteilt werden sollte. Sie war erst 23 Jahre alt, als sie die Schule im April 1932 gründete, doch mangels Erfahrung standen die Chancen auf Erteilung der Konzession schlecht. Sie setzte den 31-jährigen Heinrich Selver als Schulleiter ein, und der Unterricht konnte beginnen.
Sport und Kreativität wurden groß geschrieben, einen besonderen Stellenwert nahm auch der Unterricht in den Fächern Deutsch, Kunst und Musik ein. Die Schüler wurden dazu ermutigt, kreativ zu sein. „Wir haben gelernt, wie man lernen muss“, sagt die ehemalige Schülerin Lilli Szonyi, die als 12-Jährige 1936 an die Kaliski-Schule kam und heute in Massachusetts lebt.
Der größte Unterschied zu den staatlichen Schulen lag aber in der Freiheit, die die Jungen und Mädchen in der Villa genossen. „Wir konnten unsere Gedanken äußern. Man fühlte sich frei“, erklärt Lilli Szonyi. Damit sei die Schule genau das Gegenteil von den Lyzeen gewesen, die die Schüler sonst gewöhnt waren und an denen die Autorität der Lehrer unangreifbar war. „Lotte Kaliski war auch eine strenge Lehrerin, eine Autoritätsfigur, aber sie hatte moderne Prinzipien“, urteilt Szonyi heute. Das Verhältnis zu den Lehrern war nicht auf Angst gebaut.
Überhaupt sei diese Schule eine kleine Welt für sich gewesen. „Himmlisches Ghetto“, „der beste Teil einer schlimmen Zeit“ und „Insel der Geborgenheit“, das sind die häufigsten Beschreibungen der ehemaligen Schüler. „Die Schule hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind“, sagt Inge Forstenzer entschieden. Aus den insgesamt knapp 400 Schülern sind eine Reihe namhafter Persönlichkeiten hervorgegangen, wie der Modedesigner John Weitz, der Regisseur Mike Nichols und Michael Blumenthal, US-Finanzminister unter Jimmy Carter und heute Leiter des Jüdischen Museums in Berlin. Bei der Frage, was die Schule so besonders gemacht hat, herrscht allgemeine Übereinstimmung. „Die Lehrer waren einfach fantastisch“, sagt Michael Blumenthal, „und die beiden Schulleiter Lotte Kaliski und Heinrich Selver waren ausgesprochen charismatische Personen.“
Ab Ostern 1934 wird die eigentlich konzessionslose Kaliski-Schule eine jüdische Schule. Dem Dekret des preußischen Kultusministers zur „Rassentrennung“ entsprechend, mussten nichtjüdische Lehrer und Schüler die PriWaKi verlassen. Wegen dieser neuen Situation hatten es sich die Lehrer der Kaliski-Schule zur Aufgabe gemacht, den meist sehr assimilierten Schülern ihre Wurzeln näher zu bringen. Jüdische Geschichte und Hebräisch gehörten zum Stundenplan, jüdische Feste wie Purim und Chanukka wurden groß gefeiert.
Ab 1936 spielte auch die Vorbereitung auf die Immigration eine große Rolle. Die Schüler selbst diskutierten viel über die künftige Ausreise. „Wir waren alle Experten in Emigrationsfragen, zum Beispiel die Frage, in welchem Land man welche Dokumente zur Einreise brauchte“, erinnert sich Michael Blumenthal, der mit seiner Familie nach Schanghai ausreiste und ein Jahr später in die USA einwandern konnte. Auch im Unterricht selbst stand Vorbereitung auf die Auswanderung auf dem Stundenplan. Die Kinder aus der einst gehobenen jüdischen Mittelschicht lernten, Kartoffeln zu schälen und Löcher zu stopfen. Außerdem spielten Fremdsprachen eine große Rolle. „Wir sollten immer durch den Garten gehen und französisch dabei sprechen. Das war natürlich Quatsch“, erzählt Werner Stein.
Der inzwischen 76-jährige sieht seine Schule überhaupt wesentlich nüchterner als viele seiner Mitschüler. Ins Schwärmen gerät allerdings auch er, wenn er an die Lehrer denkt, die alle aus ihren staatlichen Schulen hinausgeworfen wurden und in der Kaliski-Schule eine neue Anstellung fanden. „Die waren einfach fantastisch“, betont auch er. Außerdem denkt er gerne an die Klassentreffen zurück, die seit 1960 regelmäßig von Inge Forstenzer organisiert wurden. „Da herrschte immer eine ausgesprochen freundschaftliche und herzliche Atmosphäre“, erzählt er. Besonders auf dem Treffen im Kempinski, das 1993 auf Einladung des Senats stattfand.
Eine Woche lang konnten die ehemaligen Schüler ihre alte Schule und ihre Wohnhäuser besichtigen und noch einmal den Schulweg antreten. Es war das letzte und der Höhepunkt aller bisherigen Klassentreffen. Ein neues ist selbst zum 70-jährigen Jubiläum der Schule in diesem Jahr nicht geplant, denn 1995 starb Lotte Kaliski, und außerdem wird die Anreise zu den Treffen für die ehemaligen Schüler immer beschwerlicher.
Die Pogromnacht am 9. November 1938 markierte auch für die Schule den Endpunkt, obwohl sie offiziell noch einige Monate weiter existierte. „Doch nach dieser Nacht war an dieser Schule nichts mehr so wie vorher“, sagt Werner Stein. Viele Kinder mussten mit ihren Familien das Land verlassen und auch er konnte danach nicht mehr zur Schule gehen. Auch Heinrich Selver und Lotte Kaliski wanderten 1938 nach Amerika aus.
Inzwischen erinnert außer den im Krieg erhalten gebliebenen Dokumenten nicht mehr viel an die Private Waldschule Kaliski, die innerhalb von sieben Jahren mehrmals umziehen musste und schließlich in der Straße Im Dol 2–4 ihre endgültige Bleibe fand. Nachdem die Schule 1939 geschlossen wurde, diente die herrschaftliche Villa in Dahlem den Nazis bis 1945 als Dechiffrierstation.
Heute ist dort das Deutsche Archäologische Institut untergebracht und seit zwei Jahren weist ein Schild auf die bewegte Vergangenheit der Villa hin. „Auf diesem Grundstück befand sich von 1936 bis 1939 die private jüdische Waldschule Kaliski“, steht auf dieser Porzellantafel. „Ausgeschlossen aus den öffentlichen Schulen, fanden hier viele jüdische Schüler und Lehrer eine letzte Möglichkeit zu lernen und zu lehren. Im März 1939 musste die Schule zwangsweise schließen. Schüler und Lehrer flüchteten in alle Teile der Welt. 39 Schüler wurden Opfer der Shoah.“
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